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Die Achte Suende

Die Achte Suende

Titel: Die Achte Suende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Leonardo starr und mit geschlossenen Augen in dieser Haltung. Er wusste, was im Innern des schwarzen Gehäuses vor sich ging.
    Irritiert, ja geschockt, starrte Anicet, den nur selten etwas aus der Ruhe brachte, auf das Abbild links neben ihm. Der gebündelte Lichtstrahl, der durch das Loch an der Vorderseite fiel, warf ein flaues Gemälde auf die weiße Leinwand. Und je länger er das auf dem Kopf stehende Bild betrachtete, desto mehr wurde ihm klar: Der kopfstehende Mann auf der Leinwand glich aufs Haar dem Mann auf dem Turiner Grabtuch.
    Wie benommen stürzte Anicet aus dem schwarzen Kameragehäuse. Ohne auf die Blöße Leonardos zu achten, rief er in höchster Erregung: »Sie sind ein Hexer, Messer Leonardo, ein Magier und Gespensterseher, und noch dazu ein verdammt guter!«
    Während der Alte sich wieder ankleidete, schüttelte Anicet immer wieder den Kopf, als wollte er das Geschaute nicht begreifen. Schließlich fragte er: »Aber wie brachten Sie Ihr Abbild auf die Leinwand?«
    Leonardo grinste in sich hinein. Nach einer Weile meinte er mit demselben Lächeln: »Das war in der Tat der schwierigste Teil des Unternehmens. Doch ich erinnerte mich dunkel an eine Schrift, die ich vor fünfhundert Jahren verfasst hatte, welche aber heute verschollen ist. Damals hatte ich eine Lösung gefunden, wie man das Bild in der Camera obscura festhalten und auf Leinwand bannen konnte. Könnt Ihr mir folgen?«
    »Aber ja!«, beteuerte Anicet.
    »Ich wusste nur«, fuhr Leonardo fort, »dass dabei Silber oder Gold eine Rolle spielte. Also experimentierte ich mit beidem und kam nach wenigen Wochen zu einem verblüffenden Ergebnis: Beim Auflösen von Silber und Gold in Schwefelsäure entsteht Silbersulfat Ag2 SO4. Tränkt man ein Leinen mit dieser Lösung, dann ist der Stoff nach dem Trocknen – wenn auch nur leicht – lichtempfindlich wie der Film einer Kleinbildkamera.«
    »Und Sie selbst standen Modell für Jesus von Nazareth.«
    »Um Himmels willen, erinnert mich bloss nicht daran! Ich musste sechzehn Stunden regungslos unter den glühenden Scheinwerfern aushalten. Und dann wäre beinahe alles umsonst gewesen. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Belichtung noch immer zu kurz war. Das schattenhafte Negativ zeigte eine hellere Tönung als die Abbildung auf dem Original.«
    »Also noch einmal alles von vorne!«
    »Ihr seid gut. Das Leinen, das mir Moro geliefert hat, war unwiederbringlich. Es stammte aus dem vierzehnten Jahrhundert, hatte jedoch dieselbe Webart wie das Turiner Grabtuch, ein Fischgrätmuster in Drei-zu-eins-Technik. Das heißt, beim Weben lief der Schuss erst
unter
drei Kettfäden, dann
über
einen Kettfaden, dann wieder unter drei Kettfäden und so fort. Ein typisches Webmuster, das über tausend Jahre Bestand hatte. Gott weiß, woher Moro das Leinen hatte.«
    »Und wie gelang es Ihnen, den Kontrast der Abbildung zu verstärken? Soweit mir bekannt ist, hat kein einziger Experte, der die Kopie zu Gesicht bekam, Zweifel an der Echtheit des Turiner Grabtuches geäußert, obwohl es doch die von Ihnen gefertigte Kopie war.«
    Leonardo drehte beide Handflächen nach außen und erwiderte: »Wie so oft im Leben, wenn die Not am größten ist, kommt einem der Zufall zu Hilfe. Ich malte zu jener Zeit gerade an einem Selbstbildnis, und wie Ihr wisst, spielen in der Malerei Eier eine wichtige Rolle. Die frühitalienischen Meister verwendeten Eidotter und Farbstoff zu gleichen Teilen. Eiweiß diente lange Jahre als Grundierung, der sogenannte Albumingrund. Und zu Schnee geschlagenes Eiweiß findet als Untergrund zum Vergolden Verwendung. Aus Neugierde experimentierte ich für mein Selbstbildnis mit gekochten Eiern. Hundert Stück mochten es wohl gewesen sein, die mir zur Verfügung standen. Aber alle Versuche, das Inkarnat meines Selbstbildnisses – ich malte mich übrigens nackt – natürlicher hinzubekommen, scheiterten. Enttäuscht fraß ich ein gutes Dutzend harter Eier, kräftig mit Salz und Pfeffer gewürzt, ein halbes Dutzend warf ich vor Wut an die Wände, wobei eines auf der zu hell geratenen Kopie landete.«
    »Dabei haben Sie die wertvolle Kopie erst recht verdorben!«
    »Verdorben? Im Gegenteil. Die Stelle, an der das Ei die belichtete Kopie getroffen hatte, zeigte drei Tage später denselben Kontrast wie das Original. Das Phänomen beruhte auf der Bildung einer dünnen Oberflächenschicht von Silbersulfid durch Spuren von Schwefelwasserstoff.«
    »Genial, Messer Leonardo, wirklich genial! Aber da war noch

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