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Die Achte Suende

Die Achte Suende

Titel: Die Achte Suende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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mit einer kleinen, aber feinen Speisekarte. Nach einem vorzüglichen Fischessen zog er sich auf sein Zimmer in der ersten Etage zurück.
    Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen lag Anicet in seinem Bett und betrachtete ein Bild an der Wand gegenüber. Es zeigte eine alte Stadtansicht von Antwerpen, eine Kopie von einem der zahllosen flämischen Maler, die diese Stadt hervorgebracht hat.
    Und jetzt dieser Leonardo, ging es Anicet durch den Kopf, zweifellos ein Genie, das die Kunst der Malerei beherrschte wie Leonardo da Vinci, ein Mann, der sein Können so verinnerlicht hatte, dass er sich mit seinem großen Vorbild identifizierte. Anicet wusste nicht, was er von seinem Gehabe halten sollte. Ob er wirklich verrückt war, oder ob er nur mit seiner Verrücktheit spielte und sich über die Menschheit lustig machte?
    Was immer der Wahrheit am nächsten kam, Ernest de Coninck alias Leonardo war eine faszinierende Persönlichkeit. Für die Bruderschaft der Fideles Fidei Flagrantes wie geschaffen. Anicet musste alles daransetzen, ihn für ihre Zwecke zu gewinnen. Dafür legte er sich eine Strategie zurecht. Genies, das wusste er von den Bewohnern von Burg Layenfels, sind eitel …
    Mit diesen Gedanken schlief Anicet ein. Er wachte auf, als der erste Glockenschlag einer nahe gelegenen Kirche in sein Zimmer drang. Während er sich schlaftrunken im Badezimmer rasierte, ordnete er seine Gedanken. Dann nahm er ein Frühstück ein und beglich seine Hotelrechnung.
    Das letzte Stück des Weges zur Luisenstraat legte Anicet zu Fuß zurück. Das Wetter hatte sich beruhigt, und die frische Morgenluft beflügelte seine Sinne.
    Leonardo hatte ihm geraten, den Hintereingang zu benutzen. Also nahm Anicet den Weg durch die Feuergasse, deren Pflaster am Morgen noch feucht war. Vorbei an den Mülltonnen im Hinterhof gelangte er zu der Tür, durch die ihn Leonardo am Abend zuvor entlassen hatte. Weil ein Klingelknopf fehlte, schlug Anicet mit der geballten Faust gegen die Tür.
    Leonardo reagierte nicht.
    Deshalb drückte Anicet die Klinke nieder. Die Tür war unversperrt.
    »Messer Leonardo!«, rief Anicet, nachdem er sich Zutritt zum Gewölbe des Hauses verschafft hatte. »Messer Leonardo!«
    Wie am Tag zuvor brannte Licht in dem Gewölbe, und Anicet wandte sich der steilen Treppe zu, die am hinteren Ende des Raumes nach oben führte. Langsam nahm er eine Stufe nach der anderen, in der Hoffnung, das laute Knarren der Stiege würde Leonardo auf den frühen Besucher aufmerksam machen.
    »Messer Leonardo!«, rief er noch einmal. »Messer L...«
    Das Wort blieb Anicet im Hals stecken. Von der Decke des Ateliers baumelte Leonardo an einem Strick, der seinen Hals einschnürte. Aus dem offen stehenden Mund hing seine Zunge, weiß wie ein verdorbenes Stück Fleisch. Seine Augen, zwei Kugeln aus Milchglas, traten aus den Höhlen hervor und starrten ins Leere. Durch die Schrägstellung des Kopfes wurde die verfranste Unterseite des Bartes sichtbar.
    Leonardo trug das mittelalterliche Wams und die rote Strumpfhose wie am Vortag. Sein linker Arm hing senkrecht herab. Der rechte war leicht angewinkelt, und die Hand bedeckte die Scham, geradeso wie auf dem größten seiner Meisterwerke, der Kopie des Turiner Grabtuches. Zufall? Oder eine letzte Botschaft?
    Plötzlich begann Leonardo sich um die eigene Achse zu drehen. Anicet entfuhr ein Schreckenslaut. Doch dann bemerkte er den Luftzug, der die Leiche des Mannes einen gespenstischen Totentanz aufführen ließ.
    Der unerwartete Anblick hatte Anicet zunächst jeden Gedankens beraubt. Erst allmählich besann er sich. Was war geschehen? Noch am Abend hatte Leonardo nicht den geringsten Anschein erweckt, als ob er des Lebens überdrüssig gewesen wäre.
    Anicet blickte sich um. Im Atelier herrschte dasselbe Chaos wie gestern. Alle Gemälde hingen an ihrem angestammten Platz -jedenfalls soweit sich Anicet erinnern konnte. Ihm fiel nur eine A-förmige Tritdeiter auf, etwa zwei Meter hoch, gleich rechts neben dem Treppenaufgang. Anicet zweifelte, dass er sie am Vortag an dieser Stelle gesehen hatte.
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzstrahl: Leonardo hing gut eineinhalb Meter über dem Boden, und es gab keinen Hinweis, wie er überhaupt den Strick an dem Deckenbalken befestigt hatte. Nicht einmal ein Stuhl war vorhanden, der im Übrigen viel zu niedrig gewesen wäre. Blieb nur die Trittleiter. Aber die lehnte an der Wand.
    Ganz allmählich wurde Anicet von der Gewissheit erfasst, dass

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