Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Unwetter könne den Zerfall der Segel beschleunigen, dann hätten Sturm und Wellen leichtes Spiel, der nasse Tod sei allen gewiss. Jeder Seemann, der auf Anna Rosländers Schiff anheuerte, würde sich in unabsehbare Gefahr begeben. Konnte dies eine noch so stattliche Heuer ausgleichen? Würden die kleine Tochter und das hilflose Söhnchen des Seemanns ihren Vater jemals wiedersehen ? Wie sollte die frischgebackene Witwe ihre Kinder ohne Geld durchbringen? War es nicht so, dass ein Mann, der auf diesem Schiff anheuerte, seine Kinder genauso gut gleich im Waisenhaus abgeben konnte?
Was tat Anna Rosländer, um die Menschen über die Gefahren für Leib und Leben aufzuklären – Gefahren, die ohne Annas Schiff gar nicht entstehen würden? Mussten erst Menschen sterben, damit die Witwe ihren Fehler erkannte? Oder war ihr die Genugtuung, ihren verstorbenen Mann zu rächen, wichtiger als das Leben unschuldiger Kinder?
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»Das habe ich nie gesagt! Das habe ich noch nicht einmal gedacht! Mein Vater wird der Stadt den Krieg erklären!«
Blass und zornbebend stand die Prinzessin in Hedwig Wittmers Studierstube. Die anwesenden Frauen fürchteten, dass sie jeden Moment umkippen könnte. Aber es war nicht möglich, den Zorn zu umgehen. Er musste aus dem Menschen heraus, weil er ihn sonst von innen zerfressen würde.
»Nun mal mit der Ruhe«, sagte Sybille Pieper. »Wenn hier einer den Krieg erklärt, dann wir.«
»Wir?«, fragte die Frau des Brauers. »Wieso wir?«
»Weil sie das von uns erwarten. Also zeigen wir ihnen, dass sie sich nicht geirrt haben.«
»Wir wollen keinen Krieg«, betonte Trine Deichmann, »egal, wer ihn erklärt.«
Erneut erzählte die Prinzessin, was sich im Rathaus abgespielt hatte, bevor die Hebammen gekommen waren und sie dazu gebracht hatten, die schlecht schmeckende Farbe auszuspucken.
»Ich habe kein Wort über das Schiff gesagt«, erklärte die Prinzessin. »Kein einziges Wort. Die Männer übrigens auch nicht. Darum ist es gar nicht gegangen.«
»Oh doch«, korrigierte sie Hedwig. »Das schwingt immer mit. Und jetzt haben sie wieder einen Treffer gelandet.«
»Aber es ist nicht wahr!«, begehrte die junge Frau auf. »Ich stelle das richtig. Ich will nicht, dass ich wie eine dastehe, die gegen unsere Freundin spricht.«
»Zu spät«, sagte Hedwig. »Das Falsche ist in der Welt. Wir kriegen den Korken nicht mehr in die Flasche.«
»Ich will wissen, wer das war«, knurrte die Prinzessin.
»Und wenn du es weißt, was willst du mit ihm anstellen?«
»Das überlege ich mir noch. Aber es muss eine harte Strafe sein. Das kann so nicht bleiben. Mein Vater erklärt der Stadt den Krieg und dann …«
»… dann werdet Ihr erleben, in welcher Geschwindigkeit Lübeck Legionäre einkauft. Eine Stadt, die es mit Schweden aufnimmt, wird es auch mit Eurem Vater aufnehmen, wenn Ihr mir die Offenheit nachsehen wollt.«
Die Prinzessin hatte an 50 oder 60 Männer gedacht, die aus den umliegenden Dörfern zusammengekauft würden, um dann vereint mit Mistgabeln, Speeren und viel Gebrüll gegen Lübeck loszuziehen. Dass Lübeck es schaffen könnte, die zehnfache oder 20-fache Menge einzukaufen, daran hatte sie bisher nicht gedacht. Dass Lübeck reich genug war, um die 500-fache Menge einzukaufen, erzählte ihr niemand, und das war für ihren Seelenfrieden auch gut.
Lange rang die Prinzessin mit sich, bevor sie sagte: »Wenn sich alles so verhält, wie Ihr sagt, dann bedeutet das ja, dass jeder Lübecker jede Lüge ausgießen kann, und man wird ihm glauben und niemand kann sich dagegen wehren.«
»Ihr drückt es sehr prononciert aus, aber recht habt Ihr jedenfalls«, erwiderte Hedwig Wittmer . »Wer sich bei uns auskennt, wer die Kanäle kennt, in die man das, was man loswerden will, einspeist, der wird Erfolg haben. Er sollte nur nichts lancieren, was sich komplett gegen Lübecker Denken richtet. Dann wird der Lübecker bockig, das wird er nicht schlucken. Aber wenn man die herrschende Denkungsart im Auge behält und fähig ist, sich in das Lübecker Denken einzufühlen, wird der Erfolg nicht ausbleiben.«
»Alles, was gegen Anna Rosländer gerichtet ist, wird Erfolg haben«, stellte Trine Deichmann klar.
Sie sprach nicht über ihren Irrtum. Dass sie geglaubt hatte, nach dem Skandal mit der falschen Pest würden die Lübecker Ruhe geben. Sie war davon ausgegangen, dass sich das Interesse der Menschen ein anderes Ziel suchen würde. Es war ja nicht so, dass Lübeck in den letzten zwei
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