Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Militärische. »Der Fürst muss die Ehre seiner Tochter wiederherstellen. Dafür gibt es nur einen Weg.«
»Habt Euch nicht so«, entgegnete Schnabel. »Im schlimmsten Fall kriegt sie die Scheißerei. In zwei Tagen springt sie wieder mit den Reifen umher oder womit solche Kinder spielen.«
»Ihr meint die Werke in lateinischer und griechischer Sprache, die sie studiert.«
»Oder das. Griechisch, sehr beeindruckend. Das brauchen wir in unserer Welt weniger. Wir müssen ja arbeiten. Wenn wir morgens erwachen, warten keine goldenen Trassen im Ankleidezimmer auf uns. Wir scheißen auch noch selbst und lassen nicht scheißen.«
Melchior Voigt erschien an seiner Seite. »Haltet Euch zurück«, fauchte der Spiddel . »Ihr redet Euch um Kopf und Kragen.«
»Na wenn schon«, entgegnete Schnabel müde und schob den Kleinen aus dem Weg. »Ich habe die Nase voll. Die Sache wird mir zu albern. Alle Maßstäbe verschieben sich, wir kümmern uns um verzogene Gören. Als hätten wir keine richtigen Sorgen!«
Wo sich die Prinzessin aufhielt, wurde gehustet und gewürgt. Schnabel fand das würdelos. Man befand sich im Heiligsten Lübecks, rücksichtslos wurde der Ort entweiht, an dem jedem Lübecker die Knie weich wurden, weil sich hier Geist und Macht der Stadt manifestierten wie sonst nur im Hafen.
»Holt einen Medicus !«, wurde gerufen. Und: »Haut ihr in den Bauch. Sie muss erbrechen!«
Wie aufs Stichwort wurden die Türen aufgerissen. Erst erschien eine Hebamme, deren Namen man nicht kannte, kurz darauf erschien die Hebamme, deren Namen jeder kannte. Katharina und Trine Deichmann führten die Prinzessin in einen Nebenraum und duldeten einen einzigen Ratsherrn als Begleiter.
Zurück blieben ein brauner Farbfleck und neun Männer.
»Euer Kind ist in den besten Händen«, behauptete der Bürgermeister und überhörte den Schnaufer. Er kam aus der Richtung, in der Schnabel stand.
47
Das Gerücht ist ein flüchtiges Wesen. Es kommt aus dem Nichts und verschwindet ins Nichts. In der kurzen Dauer seiner Existenz muss es Schwerstarbeit leisten. Ein Lübecker Gerücht hat es doppelt schwer, denn es muss die Menschen nicht nur überraschen, amüsieren und wohlig empören. Meistens soll es auch Wirkung hinterlassen, nicht irgendeine, sondern eine ganz bestimmte. Es kommt aus einer bestimmten Richtung und zielt in eine bestimmte Richtung. Der Schuss muss punktgenau treffen, er darf nicht streuen und im falschen Ziel landen. Das beste Gerücht ist eins, das gar nicht als Gerücht wahrgenommen wird, weil die Nähe zur Wahrheit so groß ist, dass man es für zutreffend hält. Sollte diese Neuigkeit sich später als weniger denn die Wahrheit herausstellen, als Gerücht eben, kommt es darauf an, wie lange es Gelegenheit hatte, in den Hirnen und Herzen der Menschen zu wirken. Erreicht diese Zeitspanne zwei Tage oder übersteigt sie noch, hat sich das Gerücht in Wahrheit verwandelt, ehern und glaubwürdig, eine Rückverwandlung ist dann unmöglich geworden. Auch rückwirkend betrachtet hat es sich nie um ein Gerücht gehandelt, sondern war von der ersten Minute an Wahrheit, wenn auch womöglich eine überraschende, an die man sich erst gewöhnen musste, was den Lübeckern bisher jedes Mal gelungen war.
Wie verhielt es sich beispielsweise mit dem, was die geübten Kehlen der Ausrufer und die leiseren, aber deshalb nicht weniger leistungsfähigen Mundwerkzeuge der Weiterträger in der Stadt verbreiteten? Die Prinzessin warnte vor dem Schiff der Anna Rosländer. Nach eingehender Prüfung von Herz, Verstand und Gewissen war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass hier ein wahnwitziges Unternehmen ablaufe, dessen Folgen nicht abzusehen seien und Menschenleben kosten könnte. Niemand wisse, ob dieses Schiff seetauglich sei, niemand könne absehen, wie es sich bei schwerem Wetter manövrieren lassen würde. Gefahren würden überall lauern, nicht zuletzt bei den Segeln, der Lebensversicherung jedes Schiffs. Es gebe Grund zu der Annahme, dass es sich bei den Farben, die beim Rumpf und auf den Segeln Verwendung finden sollten, um Gift handelte. Wer die Ausdünstungen der Farben länger einatmete, werde Blut spucken, seine Lungen würden Blasen werfen und der Mensch werde unter schrecklichsten Schmerzen jämmerlich ersticken.
Außerdem sei nicht abzusehen, wie lange der Segelstoff die Farbe ertragen würde, bevor er beginnen würde, sich aufzulösen. Früher oder später würde das Schiff nicht mehr manövriert werden können. Ein einziges
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