Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
sie in diesen Stall oder in diesen Hauseingang gekommen war. Manchmal lag sie auch in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern. Immer aber lag sie, und je nachdem, wie sie lag, wenn sie die Augen aufschlug, wusste sie, was sie ihr angetan hatten. Im besten Fall war sie ausgeraubt worden, im schlimmsten Fall war sie schwanger. Der schlimmste Fall trat oft ein. Sie hätte das verhindern können, sie hätte weniger trinken müssen. Aber sie trank so gern, es schmeckte so gut, es wärmte sie. Wärme brauchte sie, wie sie Liebe brauchte. Aber Liebe gab ihr niemand, da nahm sie eben die Wärme.
Und wurde Stammkundin bei einer Hebamme.
»Mutter Topp, das geht nicht«, sagte die Hebamme. »Ich bin eine städtische Hebamme. Ich darf das nicht tun.«
»Ihr müsst barmherzig sein, das habt Ihr geschworen. Auf die Bibel!«
Nichts davon traf zu, unwirsch wurde die Schwangere abgewimmelt, die verwirrt schien. Wahrscheinlich war sie wieder betrunken. Sie landete bei Elsa Peurin , die stand nicht mehr in städtischen Diensten und hatte seitdem einen Hass auf Trine Deichmann, ihre ehemalige Vorgesetzte. Sie hielt Trine für die Wurzel ihres Übels. Dabei trug das Übel den Namen Hauke Braas , war Elsas Liebster seit acht Wochen und hatte sich in dieser kurzen Zeit so schlecht benommen, dass Elsa sich nach einem Neuen umsah. Sie kannte sich in den Gasthäusern des Hafenviertels aus. Dort war ihre berufliche Herkunft bekannt. Dementsprechend oft wurde sie mit dem Wunsch konfrontiert, körperliche Zustände so weit zu ändern, dass ungewollte Mitbewohner aus dem Leib vertrieben wurden.
Elsa war eine vorsichtige Frau. Noch eine Anklage, noch ein Verdacht, ein schlecht gelaunter Richter, und sie würde eine empfindliche Strafe erhalten. Ein Ortswechsel hätte Elsa geholfen, aber sie war phlegmatisch und hatte die Vorteile einer Hafenstadt schätzen gelernt, vor allem die große Zahl von Gasthäusern und von Seeleuten, die schlecht deutsch verstanden und leichte Opfer von Elsas kleinen Betrügereien wurden. Nie ließ Elsa sich zu schlimmen Taten verleiten, sie achtete darauf, dass ihre Übeltaten unterhalb der Grenze blieben, bei der das Opfer Zeter und Mordio schreit und für einen Auflauf sorgt. Einige Becher Wein oder Branntwein, ein Essen, fünf Minuten in einem Zimmer, das gerade frei war oder ein schneller Griff in eine Tasche – das war Elsa Peurins Leben. Ihr Kapital bestand in ihrem Aussehen. Sie besaß eine herbe Attraktivität, von der sich einsame Seeleute anziehen ließen. Auch einheimische Hafenarbeiter ließen sich nicht lange bitten, wenn sie auch mehr darauf achteten, dass nicht öffentlich wurde, was sie taten und Elsa zuließ.
Wer sich so oft im Hafen aufhielt wie Elsa, kannte viele Gesichter und bald auch die Namen zu den Gesichtern. Wenn man an einem Tisch saß, kam noch die Geschichte dazu, der Arbeitsplatz, was am Arbeitsplatz passierte, eine Anekdote jagte die nächste, man beschwerte sich, lästerte, lachte, nahm einen Kollegen auf den Arm. Nichts davon war ungesetzlich. Kritisch wurde es erst, wenn ein systematischer Geist begann, das Erlebte zu sortieren und das angesammelte Wissen denjenigen anzubieten, die auf der Suche nach Wissen waren.
So verwies Elsa verzweifelte Frauen an ein Gasthaus, in dem es die Adresse eines Mannes gab, der die Frauen kurierte, ohne sie zu berühren, nur mithilfe eines Tranks. Der Trank heizte die Frauen auf, brachte ihr Blut zum Kochen, es lief aus ihnen heraus, das Blut riss alles mit sich. Danach kühlte das Blut ab, die Frau fühlte sich einen Tag schwach und sollte liegen bleiben. Danach nahm das Leben wieder seinen alltäglichen Verlauf, und alles fing von vorne an.
Elsa Peurin gab diese Ratschläge nicht kostenlos. Sie verlangte aber kein Geld dafür, jedenfalls nicht mit Worten. Doch der Körper spricht auf manche Weise, mit dem Gesicht, mit der Hand, mit einem Zögern, mit der Aufforderung, etwas zu geben und dafür etwas zu hören. Jeder, der zu Elsa kam, kannte das Spiel. Nie ging es um Reichtümer, damit konnten die Ratsuchenden auch nicht dienen. Wer viel besaß, ging nicht zu Elsa Peurin .
So hatte Elsa ihren Platz in den ewigen Kreisläufen des Hafens eingenommen. Es gab viele Wege, die an ihr vorbeigingen, es gab manchen Weg, der direkt auf Elsa zusteuerte. Die Schwangere war nicht mehr schwanger, der einsame Däne lernte neben dem Holzstapel Lübecker Gastfreundlichkeit kennen, und wenn er großes Glück hatte, durfte er Elsa küssen. Der Mann in der
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