Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Frauen von Handwerkern. Das sind überschaubare Betriebe. Die Witwen müssen einen Meister finden, der die Aufgaben ihres Mannes übernimmt. In der Firma, Sybille, nur in der Firma.«
Sybille ließ den Arm sinken.
12
Die Frauen wussten, wie es ablief. Der Handwerksmeister starb, die Frau stand ohne Ersparnisse und mit kleinen Kindern da. In der Firma gab es einen Gesellen, jünger als der Verstorbene, und oft nicht hässlicher. Was lag näher, als sich zusammenzutun? Die Frau war versorgt, die Kinder waren versorgt, und der neue Meister hielt den Betrieb lebendig, bis die Kinder das Alter erreicht hatten, in dem man an die Nachfolge denken konnte.
Eine Reederei war mehr als ein Handwerksbetrieb. Eine Handwerker-Witwe, die sich entschloss, einen Meister und zwei Gesellen zu beschäftigen, damit sie Malerarbeiten ausführten, Reetdächer bauten oder eine Tischlerei betrieben, musste keine Angst davor haben, dass ihre Entscheidung Aufsehen erregte oder gar Widerstand erzeugte. Vielleicht wurde ein wenig gelästert, wie schnell die Witwe Ersatz gefunden hatte. »Der Alte ist noch nicht kalt, da liegt der Neue schon im Bett.« Vielleicht gab es einen Handwerker, der sich ärgerte, weil er nun doch nicht einen Konkurrenten weniger haben würde. Aber das war in einigen Tagen vergessen.
Im Fall der Anna Rosländer war nach einer Woche nichts vergessen. Nach einer Woche wusste der Letzte und Verschlafenste in Lübeck, dass die reiche Witwe ihr Unternehmen gegen die Konkurrenz alteingesessener Betriebe am Leben erhalten würde. Alle Widerstände, die einst der rüpelhafte Rosländer provoziert hatte, wurden jetzt auf Anna übertragen. Hätte sie einen Traditionsbetrieb besessen, wäre die Reaktion anders ausgefallen. Hätte es sich um ein Unternehmen in der zweiten oder dritten Generation gehandelt, wäre sie auf größeres Wohlwollen gestoßen. Nicht unbedingt auf Verständnis, aber man hätte sich die Mühe gemacht, sich in ihre Lage hineinzuversetzen. Im Fall Rosländer dachten alle nur an die Bubenstücke des toten Reeders und sahen rot. Würde das denn ewig so weitergehen? Würde Anna auch in Sachen Rücksichtslosigkeit in die Fußstapfen ihres Mannes treten?
Rosländer war ein Emporkömmling. In jedem Ort auf der Erdkugel hatten es Neulinge schwer, in die Kreise der alteingesessenen Kaufleute, Händler und Handwerker zu gelangen und von ihnen akzeptiert zu werden. Dieser Prozess konnte Jahre dauern, es war nicht unmöglich, ihn erfolgreich zu absolvieren. Rosländer hatte aber alles getan, um den Prozess zu erschweren. Immer wieder hatte er die Toleranz der Platzhirsche strapaziert. Nur die wenigsten betrachteten Rosländers Verhalten als willkommene Abwechslung. Jemand hatte sich zu der Bezeichnung »Blutauffrischung« verstiegen und damit allgemeines Kopfschütteln hervorgerufen.
Dazu kam, dass Rosländer sich für seinen gesellschaftlichen Aufstieg Lübeck ausgesucht hatte. Es gab nicht viele Städte auf der Erde und keine im nördlichen Europa, die so lange so viel Erfolg, Einfluss und Macht besessen hatte. Aus ihrer reichen Geschichte bezogen die Bürger Lübecks ein Selbstbewusstsein, das auf eine Figur wie Rosländer allergisch reagierte. Rosländers hatte es zu allen Zeiten gegeben. Aber in den Zeiten, als Lübeck die Erste unter den Städten der Hanse gewesen war, fiel einer wie Rosländer nicht weiter auf. Damals hatte jeder sein Plätzchen gefunden, damals gab es so viel zu tun, dass man froh um jede Hand war.
Diese Zeiten waren Vergangenheit. Niemand wusste das besser als die Lübecker. Niemand litt darunter so sehr wie die Lübecker. Einer wie Rosländer brachte der Oberschicht schmerzhaft ins Bewusstsein, dass man gezwungen war, sich mit solchen Figuren abzugeben. Einst hatten diese Beißer zur zweiten Garde gehört und konnten dort wertvolle Helferdienste verrichten. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, einen wie Rosländer zu übersehen. Frech und feist stand er im Weg, grinste einem ins Gesicht und behauptete, sich auf gleicher Augenhöhe wie die Lübecker Kaufleute zu befinden. So einer fing dann an, sich aufzuführen, als habe er gleiche Rechte und Chancen. Bewarb sich um Aufträge und tat so, als ob er eine Scheibe vom Kuchen abhaben durfte. Verkehrte an den gleichen Orten wie die Alteingesessenen, schnappte ihnen Aufträge vor der Nase weg – angeblich im redlichen Bestreben, seine Tauglichkeit zu beweisen. Doch er nahm den Lübeckern Umsatz weg. Und Profit. Zwei Gründe, Rosländer zu
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