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Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Titel: Die Adler von Lübeck: Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
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den ersten Blick wie ein halbwüchsiger Jüngling wirkte, war in Wirklichkeit ein erwachsener Mann: Melchior Voigt, Ratsherr und Verbindungsmann des Rats zu dem Ausschuss ehrbarer Patrizierfrauen, der die Arbeit der städtischen Hebammen beaufsichtigte. Äußerlich ein Spiddel , innerlich ein Spiddel , hatte er sich entschieden, auch im Verkehr mit anderen Menschen spiddelig aufzutreten. Er musste sich dann nicht ständig umstellen, was ihn Kräfte kostete, über die er nicht verfügte.
    »Ich bin nicht zornig«, knurrte Vierhaus. »Mich regt das bloß auf. Bei uns macht jeder, was er will.«
    »Ich nicht«, entgegnete Voigt. »Ich habe schon lange nicht mehr gemacht, was ich will. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr, was ich will. Weißt du es noch?«
    »Du meinst, wie es war, als ich jung war?« Vierhaus ließ die Schultern hängen. Sein Kollege hatte ein heikles Thema angesprochen. Das war ja der Grund, warum er die Witwe nicht leiden konnte. Weil er auch ihren Mann nicht leiden konnte. Weil der sich einen üblen Scherz mit Vierhaus erlaubt hatte, damals beim jährlichen Ball der Hanse, als am Abend plötzlich das Gerücht aufkam, dass vier Häuser weiter ein unsittliches Haus eingerichtet worden sei. Mit schönen Frauen aus Pommern und Polen, stark, frech und mit der Gabe gesegnet, einem Mann jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und wenn nicht von den Augen, dann von anderen Teilen seines Körpers. Hippolyt Vierhaus, nach mehreren Gläsern Wein keck und verwegen, hatte von dem Haus noch nie gehört, aber alle nickten wissend, sodass auch Vierhaus es wissen wollte. »Nur gucken!« Diese Worte wurden zur stehenden Redewendung der weiteren Nacht.
    Eine Handvoll Männer stahl sich aus dem Saal, um einen unbestechlichen Blick auf die frivole Seite des Lebens zu werfen. Vierhaus, dessen Nachtblindheit kein Geheimnis war, hielt sich am Erstbesten fest, den er zu packen bekam. Dies war Rosländer. Er führte die Gruppe an das Haus, damit man nicht auffiel, schlich man sich von hinten an. Gickernd und kichernd, wie Männer werden, wenn sie getrunken haben, stolperten sie über zwei Zäune. Dann versammelte Rosländer, Alkohol durch jede Körperpore ausdünstend, seine Kadetten und teilte ihnen mit, dass sie nun in den Genuss kommen würden, den Raum zu genießen, der unter Eingeweihten als »das Boudoir« firmieren würde. In dem Raum würden zwei Frauen, unbekleidet und in jeder Hinsicht hungrig, einander in einer Weise verwöhnen, wie man sie selbst auf den unanständigsten Bildern und Elfenbein-Schnitzereien nur selten zu sehen bekäme. Einer nach dem anderen solle an das Loch in der Wand des Nebenraums treten und seinen Kopf in die Kamera obscura stecken, die ihm Sichtkontakt mit dem Boudoir verschaffen würde.
    Hippolyt Vierhaus, das trunkene Ferkel, ließ einen Mann vorgehen, um zu sehen, wie er sich dabei machte. Der Kerl steckte den Kopf ins Finstere, und als er ihn zurückzog, leuchteten seine Augen.
    Rosländer fragte flüsternd: »Wer will als Nächster?« Da steckte Hippolyts Kopf schon in der Kamera, und auf der anderen Seite rief eine Frauenstimme: »Du Schweinepriester! Komm du mir nach Hause!«
    Rosländer hatte Frau Vierhaus in das, wie er es nannte, »schlaue Zimmer« gebeten, weil fünf Minuten in diesem Raum sie klüger machen würden als die Lektüre von 100 Folianten.
    Viele einsame Nächte hatte Hippolyt Vierhaus seitdem in dem kleinen Zimmerchen unter der Dachschräge zugebracht. Man konnte den Raum nicht heizen, im Sommer war er brüllend heiß, im Winter lief das Wasser von den Wänden, und er fror doch so leicht und seitdem noch mehr, praktisch ununterbrochen und quasi vorbeugend. Seine Ehe bestand noch auf dem Papier, aber es war nicht mehr das Gleiche wie vorher.
    Zwischen ihm und seiner Frau lag eine große Entfernung, und daran war niemand anders als Rosländer schuld. Vierhaus hätte wissen müssen, dass dem Kerl nicht zu trauen war. Es war doch nur ein Streich gewesen, seine Frau wusste es, alle wussten es, auch die Frauen der anderen Männer, die ihren gierigen Kopf durch das Loch gesteckt hatten. Allen Männern war verziehen worden, nicht gleich und manchmal erst, nachdem die Gemahlinnen ein Geschenk von beträchtlichem Wert entgegengenommen hatten. Aber ihnen war verziehen worden. Nur Hippolyt Vierhaus schmorte immer noch im eigenen Saft. Er verdächtigte seine Frau, dass sie sich an den neuen Zustand gewöhnt hatte. Dabei sehnte er sich so sehr nach ihr. Aber sie sich nicht nach

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