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Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Titel: Die Adler von Lübeck: Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
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an den Lübecker Gotteshäusern gefiel. Zu hoch, zu mächtig, zu selbstbewusst. Sie mochte die Kapellen auf dem Land, handliche Verhältnisse, fast noch Wohnräume, die von Menschen mit Gegenwart und Wärme zu füllen waren. In den Kolossen der Stadt war nichts möglich als Anbetung. Hier hatte jedes Senken des Kopfes doppelte Bedeutung, hier war der Mensch klein und unbedeutend. Wie groß war er in Wirklichkeit, dass man so viel Aufwand betreiben musste, um ihn zu stauchen?
    Anna besaß ein gutes Gedächtnis für Namen, aber nicht für die Namen von Geistlichen. Er hieß Kessler. Sie vermied es, ihn förmlich anzusprechen, er würde von ihr nichts für sein Kostüm bekommen.
    Er bedankte sich noch einmal für die Spende, auch und gerade im Namen der Witwen und Waisen. Nach Rosländers Beerdigung war die Summe geflossen, die Stadt sorgte mit Bauten für ihre Witwen und unwillig für die Waisen. Die erste Gruppe besaß Namen oder Verdienste oder beides, die zweite Gruppe besaß nichts.
    Kessler lud Anna ein, Witwenstift und Waisenhaus einen Besuch abzustatten. Es war nicht so, dass er verächtlich über die Waisen gesprochen hätte. Doch bei den Witwen nahm seine Stimme eine wärmere Färbung an. Sie waren ihm näher, die Waisen waren nicht zu vermeiden. Dafür wollte Anna ihn nicht tadeln, ihr war klar, wie viele elternlose Kinder die Straßen bevölkerten. Auf sie wartete ein Leben in Armut und Hunger, ohne Bildung und Zukunft. Sie würden stehlen müssen, um zu überleben. Sie würden sich als Soldaten einkaufen lassen und jede Arbeit annehmen, deren Lohn miserabel war. Sie würden Partner finden, die ebenso arm waren wie sie, sie würden viele Kinder bekommen, denen sie nichts geben konnten außer Armut und einer Lehrzeit in Betrug, Diebstahl, Zechprellerei. Sie würden nicht alt werden, und am Ende ihrer Tage würden sie sich fragen, ob es das wert gewesen war. So war das Leben, Arme hatte es immer gegeben und würde es immer geben. Etwas anderes war nicht denkbar. Aber wer Geld besaß, konnte Geld geben, damit sie zu essen bekamen, damit sie nicht frieren mussten, ohne Läuse und Flöhe lebten.
    Kessler sagte: »In unserer Stadt arm zu sein, ist etwas anderes als es woanders zu sein.«
    »Pech für Euch, dass Ihr nicht arm seid.«
    Lächelnd steckte er die Attacke weg. Einer wie Anna Rosländer teilte man es nicht mit, wenn man ihre Reden pöbelhaft fand. Einen Moment erwog sie, ihn so lange zu triezen, bis der Putz von seiner lächelnden Fassade abplatzen würde. Aber dazu war sie zu müde.
    Als sie dachte, sie habe die Freundlichkeiten des Gottesmannes überstanden, redete er vom Schiff. Mehrfach legte er Pausen ein, um ihr Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Aber da er keine Fragen stellte, bekam er keine Antworten.   So stellte er Fragen, daran erkannte Anna, dass man ihn beauftragt hatte.
    »Die Arbeiten nehmen einen guten Verlauf«, sagte sie.
    »In der Stadt redet man über nichts anderes mehr. Das ist Euch bestimmt nicht entgangen?«
    »Wenn Ihr es sagt.«
    »Niemand war darauf gefasst. – Auch ich persönlich war nicht darauf gefasst. – In der Stadt fragt man sich nun natürlich   … die Kirche hat ihr Ohr am Puls der Menschen. Sagte ich Puls? Mund, ich meine am Mund der Menschen. Warum?«
    »Pardon?«
    »Warum tut Ihr das? Wir reden untereinander darüber. Jeder äußert Vermutungen. Aber ich denke, wer so etwas Großes ins Werk setzt, wird sich vorher Gedanken gemacht haben.«
    »Ihr werdet es mir nicht glauben, aber der Entschluss fiel, als er fiel, sehr schnell. Praktisch über Nacht.«
    »Mancher in der Stadt spürt eine gewisse   … Irritation. Man kann es sich schlecht erklären.«
    »Wenn Ihr Euch entschließen könntet, frei heraus zu sprechen, werdet Ihr schnell erfahren, was Euch als Einziges interessiert. Ihr wollt wissen: Wie kommt das alte Weib auf den größenwahnsinnigen Gedanken, ein Schiff zu bauen, wie es die Stadt noch nicht gesehen hat. Habe ich recht?«
    Anna zog es ins Freie, sie ergingen sich auf dem kleinen Friedhof. Anna fürchtete keinen Friedhof, auch nicht die Erinnerungen. Der Schmerz war sowieso vorhanden, sie musste nicht Anblicke meiden, die sie im Grunde als friedlich empfand.
    Mit dem Himmel über dem Kopf redete der Pastor gleich freier. Sicher hatte er sich vor dem Zorn der Witwe gefürchtet und vor dem Verlust ihrer Zuwendungen. Er war so froh über den Verlauf des Gesprächs, dass ihm nicht aufging, dass Anna immer weniger und er dafür immer mehr

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