Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Ihr den Trennungsstrich zwischen der Stadt und den Männern? Ist Lübeck nicht gleichbedeutend mit den Personen, die die Geschäfte verantworten? Sind das nicht alles Männer? Haben wir uns nicht manches Mal über diese Männer lustig gemacht?«
»Nach dem zweiten Glas.«
»Man kann auch nach dem zweiten Glas die Wahrheit sagen. Ich für mein Teil könnte Euch aus dem Stand zehn Namen von Männern nennen, die mich aufregen. Wenn Ihr mir ein wenig Zeit gebt, könnte ich auch mehr Namen nennen: 20, 50.«
Sie lächelten sich an.
»So ist die Welt«, sagte Trine. »Es ist eine Männerwelt. Alles, was wir tun können, ist, das, was sie umgeworfen haben, wieder aufzustellen; und alles, was ihnen nicht eingefallen ist, diskret zu erwähnen, sodass sie sich einreden können, es würde sich um ihre eigenen Einfälle handeln.«
Beide lebten lange genug in Lübeck, um die einflussreichen Personen in Aktion erlebt zu haben. Die Grenze zwischen öffentlichem Auftritt und privatem Leben war durchlässig. Ab einem gewissen Umfang seiner Geschäfte war jeder Kaufmann eine öffentliche Figur. Ab einem gewissen Umfang seines geschäftlichen Engagements wuchs bei ihm der Wunsch, Einfluss auf die Interessen der Stadt zu nehmen. Kaufmann und Politiker – das war keine Alternative, sondern eine Ergänzung. Natürlich verfolgte ein Kaufmann nur diejenige Politik, die seinen Interessen als Kaufmann nicht im Wege stand. Und ein erfolgreicher Kaufmann verstand es, seine Geschäfte so zu entwickeln, dass sie mit der städtischen Politik Hand in Hand gingen. Wo die Geschäfte sich störend an der Politik rieben, wurde die hinderliche Politik an den Stellen abgeschliffen, die die Harmonie bedrohten. Im Mittelpunkt stand immer Lübeck.
Im Mittelpunkt stand immer der Kaufmann.
Hedwig Wittmer sagte: »Sie nennen es Weisheit.«
»Weil der Ausdruck Vetternwirtschaft unschön klingt.«
Ihr Mann war einer der größten Kaufleute der Stadt, er war auch einer der wenigen, die sich auf Produktion und Handel beschränkten. Der Brauer Wittmer wollte nicht im Rat sitzen, wollte nicht in Ausschüssen debattieren und jede gesellige Runde binnen weniger Minuten in eine Koalitionsabsprache verwandeln. Es musste auch solche Kaufleute geben, aber zu viele von dieser Sorte wären schädlich gewesen.
Trine sagte: »Was wäre, wenn Anna ein Mann wäre? Liegt es in Wirklichkeit daran?«
»Ich denke, dann wäre es zumindest nicht so schnell so garstig geworden. Natürlich liegt es auch an ihrem Mann. Wäre er ein echtes Lübecker Gewächs gewesen, hätte man Gründe für sein Verhalten gesucht. Ich denke, dann hätte man ihn nicht nur einen Grobian genannt, dann hätte man sich damit gebrüstet, wie stark und durchsetzungsfähig ein Lübecker sein kann.«
»Ein Lübecker Mann.«
»Natürlich. So denken sie. Nur so können sie denken.«
»Also hätten wir eine Gelegenheit …«
Lange blickten sie sich an.
»Der Gedanke hat Charme«, sagte Hedwig Wittmer , »aber uns muss klar sein, dass wir damit ein Fass aufmachen.«
»Das, was meine Hebamme aufgeschnappt hat, kann nur bedeuten, dass es Kräfte gibt, die Annas Zulieferer unter Druck setzen. Wie sollen wir darauf reagieren?«
»Wie können wir darauf reagieren?«
»Wir können die Sabotage öffentlich machen. Niemand wird so ein heimliches Verhalten gut heißen.«
»Sie werden alles abstreiten. Wir haben kaum Namen und kennen die Kontakte nicht. Es muss jemanden geben, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Der die Befehle erteilt.«
»Und wenn es nicht einer ist? Wenn es mehrere sind? Wenn es viele sind? Oder alle?«
»Dann stehen wir gegen die Stadt. Dann steht auch Anna gegen die Stadt. Dann darf das Schiff nicht gebaut werden.«
20
Bevor er den Türklopfer bediente, atmete der Reeder Schnabel tief durch. So viel war er selten unterwegs und dann noch zu Fuß. Eine Besprechung jagte die nächste, und stets war die Entfernung zwischen den Orten so kurz, dass Schnabel auf eine Kutsche verzichtete, um nach der zweiten Straßenecke festzustellen, dass er den Weg unterschätzt hatte. Es war recht warm, in den schmalen Gassen stand die Luft. Die hohen Häuser verhinderten, dass von See her frischer Wind eindringen und die Luft in Bewegung setzen konnte.
Plötzlich war Schnabel nicht mehr allein. Vierhaus, der Kürschner, tauchte neben ihm auf. Trug wieder seine Leichenbittermiene, die er seit Monaten nicht abgelegt hatte. In der ganzen Stadt gab es wohl keinen Mann, der so ein Theater
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