Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
erkannte, dass das angelieferte Holz minderwertig war.
Am Tag darauf wurde die Arbeit unterbrochen, Anna Rosländer schickte ihre Leute nach Hause, versprach aber Bezahlung für Tage, an denen sie ohne eigene Schuld untätig bleiben würden.
In Begleitung von zwei Ratsherren erschien Anna Rosländer auf dem Rathaus und verlangte, den Bürgermeister zu sprechen. Der war angeblich vor einer Stunde gegangen, niemand wusste, ob er heute noch ins Rathaus zurückkehren würde.
Zeitgleich lief der Bürgermeister beim Versuch, das Gebäude durch einen Nebenausgang zu verlassen, einem der Männer in die Hände, die auf Annas Bitten dort Aufstellung genommen hatten. Es kam zu einer entwürdigenden Szene, als der Bürgermeister ausrief: »Ich bin nicht der, für den Ihr mich haltet!«
Der schlagfertige Posten entgegnete: »Das ist gut möglich. Ich hielt Euch nämlich bisher für einen Ehrenmann.«
Das wollte der Bürgermeister nicht auf sich sitzen lassen, er stritt noch, als die inzwischen alarmierte Witwe erschien. Der Bürgermeister weigerte sich, mit ihr zu sprechen, sagte einen Termin für den kommenden Tag zu, den er jedoch nicht einhielt. Danach hieß es, er sei Richtung Kopenhagen aufgebrochen, um einen seit langem beschlossenen Besuch bei seinem dänischen Amtskollegen zu absolvieren. Das entsprach der Wahrheit, wie Anna Rosländer in Erfahrung brachte.
H
Weitere zwei Tage später kam es zu einem Eklat, der die Stadt in Aufregung versetzte. Ein Seemann aus Schweden, seit einer Woche im Hafen und Stammgast in den übel beleumdeten Spelunken, besichtigte die Rosländer-Werft. Weil dort nicht gearbeitet wurde, verschaffte er sich Zugang, sah sich alles an und wollte die Werft verlassen, als er plötzlich einknickte. Mit den Händen fuhr er durch sein Gesicht, stieß gurgelnde Schreie aus, winkte Hilfe suchend zwei vorübergehenden Männern zu und brach zusammen. Die Männer eilten zu dem Reglosen. Sie wollten ihn auf den Rücken drehen, einer riss den anderen zurück und rief: »Die Pest! Er hat die Pest! Auf der Werft ist die Pest ausgebrochen!«
Soldaten riegelten die Werft ab, in die man zuvor den Seemann gebracht hatte. Seine Habseligkeiten wurden sichergestellt und verbrannt. Man wollte auch das Schiff, das noch im Hafen lag, aufs Meer hinausziehen und dort in Brand setzen. Doch die Besatzung kam den Abgesandten der Stadt zuvor, das Schiff machte los, nahm Kurs aufs offene Meer und ward nicht mehr gesehen.
Die Kunde von dem Pestfall raste durch die Stadt, die Geschäfte kamen zum Erliegen. Die Pest – das war die schlimmste Heimsuchung, die denkbar war. Alle 30 Jahre holte sich eine Epidemie Hunderte von Opfern. Erst vor einer Handvoll Jahren hatte der Tod reiche Ernte eingefahren. Das Risiko war hier größer als anderswo, denn mit den Schiffen kamen fremde Ladung und fremde Menschen an Land. Sie legten weite Entfernungen zurück und konnten die Krankheitserreger über Hunderte von Kilometern einschleppen. Niemand wusste, wie es zum Ausbruch der Epidemien kam, daher war vorbeugender Schutz unmöglich. Die Pest war ein unabwendbares Schicksal. Wenn sie ausbrach, blickten die Menschen dem Tod ins Auge. Wer erkrankte, war verloren. Wenn die Pest raste, landeten die Körper der Toten in Massengräbern vor den Toren der Stadt.
Im Rathaus gingen nachts die Lichter nicht mehr aus. Weil der Bürgermeister nicht in der Stadt weilte, übernahm Ratsherr Gleiwitz den Vorsitz des Pest-Komitees. Er besaß die meiste Erfahrung mit Seuchen, er hatte Cholera, Ruhr, Typhus und Pocken überlebt – er war in seinem Leben viel herumgekommen. Gern erzählte Gleiwitz von seinen Heldentaten, er hatte sich als umsichtig, ausdauernd und kompetent erwiesen. Wer ihn jetzt sah, erlebte einen Mann, der wenig umsichtig, gar nicht ausdauernd und schrecklich inkompetent wirkte. Man schrieb es dem Schreck zu. »Morgen wird er sich gefangen haben«, murmelte man auf den Fluren.
Die Medici der Krankenhäuser eilten aufs Rathaus und stellten ihre Arbeitskraft zur Verfügung. Wer Erfahrung in der Pflege von Kranken hatte, erschien auf dem Rathaus, einfache Frauen aus den armen Vierteln hinterließen ihre Namen und sagten, dass man sie zu jeder Tag- und Nachtzeit holen könne. Inmitten des Durcheinanders auf dem Rathaus spielten sich rührende Szenen von Hilfsbereitschaft und Mut ab. Und dazwischen Gleiwitz , das Nervenbündel, den reiselustigen Bürgermeister verfluchend, der in Kopenhagen längst Lunte gerochen haben musste und die
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