Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
gemacht. In dem Maße, wie sich der selbstlose Einsatz der alten Schlüter herumsprach, nahm auch die Zahl der Bürger zu, die ihr Geld zusteckten oder Kleidung überließen. Sie lebte in einem besseren Viehstall und behauptete, darunter nicht zu leiden. Wenn jemand gebraucht wurde, war sie zur Stelle: stumm, klein, unauffällig. Sie machte sich schon an die Arbeit, wenn Schlaumeier noch darüber palaverten, was zu tun sei und wie es zu tun sei. Nie hatte die alte Schlüter jemanden korrigiert, doch die Zahl der Ärzte, die sie beschämt hatte, war sehr groß.
Stadtarzt Ebel hatte gesagt: »100 von ihrer Art, und Lübeck wäre die christlichste Stadt von allen.«
Trine Deichmann suchte die Zusammenarbeit mit der Pflegerin nicht. Zwar bestand kein Zweifel, dass die alte Schlüter auch als Hebamme eine gute Figur abgeben würde, doch Trine war mit ihren Kolleginnen zufrieden. Und in ihr lebte ein Rest von Zweifel. Was, wenn die Krankheitserreger, denen die Pflegerin jahrelang begegnet war, in ihren Körper eingedrungen waren und dort nur schliefen? Wer konnte wissen, ob sie nicht eines Tages zu wachsen beginnen würden? Und ob sie sich nicht zuerst über das Schwächste und Wehrloseste hermachen würden, was sie zu packen kriegten? Das wären neugeborene Kinder.
»Kannst du auch was anderes malen als Schiffe?«
»Wollt Ihr mich mit Absicht nicht verstehen?«
»Du malst Schiffe, weil es dein Beruf ist. Die Witwe will nur Schiffe von dir.«
»Sie baut Schiffe. Wäre sie Müllerin, müsste ich Windmühlen malen … zeichnen.«
»Ist nicht ein Schiff wie das andere?«
»Ist denn ein Kranker wie der andere?«
Darüber dachte sie nach, er sah es ihr an.
»Außerdem geht es hier um ein besonderes Schiff, wie Ihr bestimmt wisst.«
»Das größte.«
»Alle reden immer nur von der Größe. Keiner spricht über die handwerklichen Herausforderungen.«
»Die Menschen können sich nicht so viel auf einmal merken. So merken sie sich eben, dass es groß ist. Und dass die Witwe von dem Hallodri das Schiff baut, weil sie viel Geld hat und alle bestrafen will.«
»Ist das Eure Meinung oder habt Ihr das nur aufgeschnappt?«
Schweigen.
»Und wofür bestrafen? Was soll das bedeuten?«
»Keiner mag sie. Das zahlt sie ihnen heim.«
»Aber das stimmt nicht. Die Rosländers haben ein offenes Haus geführt. Bei denen war jeden zweiten Abend etwas los. Ihre Züge durch die Gasthäuser kennt jeder in der Stadt.«
»Sie haben ihre Freunde gekauft. Wenn du Essen und Trinken spendierst, hast du Freunde. Wenn ich Geld hätte, könnte ich auch Freunde haben.«
»Habt Ihr eigentlich Familie?«
»Jedenfalls kann nicht jeder herkommen und etwas tun, was in Lübeck noch niemand getan hat.«
»Wer dürfte denn ein großes Schiff bauen?«
»Ich kenne keine Namen, ich lebe nicht da, wo die Reichen leben.«
»Aber wenn die Witwe morgen krank wird, würdet ihr sie auch pflegen.«
»Aber ich würde sie nicht anlächeln.«
Querner grinste. Dann begann die alte Schlüter, Fragen zu stellen. Sie wollte alles über das Schiff wissen. Was sie auf den Plänen entdeckte, wollte sie erklärt haben. Sie wollte die Maße erfahren und das Holz, die Dauer der Bauarbeiten, die Haltbarkeit der Farben und der Segel. Über die Segel wollte sie besonders viel wissen, kam immer wieder darauf zurück. Beide standen an der Wand mit den Plänen, Querner erklärte, beide Arme waren in Bewegung, damit sie sich das fertige Schiff plastisch vorstellen konnte. Minutenlang redete er sich in Rage. Der Absturz kam schnell und war grausam.
»Was hast du?«, fragte die alte Schlüter.
»Ich habe etwas vergessen, eine Kleinigkeit. Das Schiff wird ja nun gar nicht gebaut.«
»Wieso denn nicht? Wir machen die Kranken gesund, dann können sie weiterbauen.«
Querner lachte bitter. »Ihr habt es doch selbst gesagt. Sie wollen das Schiff nicht, bisher hatten sie bloß noch keinen Vorwand. Jetzt haben sie ihn. Ihr könnt Euch Zeit lassen mit dem Kurieren. Am besten, Ihr bringt Euch in Sicherheit, solange noch Zeit ist. Aber vergesst das Schiff.«
Er trat gegen das Erstbeste, das ihm im Weg stand. Ein Stuhl stürzte um, hinkend verließ Querner das Bureau.
Später stand er am Kai. Drüben lag die Stadt, zum Greifen nah, zum Fürchten fern. Und so was nannte sich Hafenstadt. Stolz sollten sie darüber empfinden, dass in ihren Mauern solche Visionen Gestalt annahmen. Stattdessen stänkerten sie herum und benahmen sich wie die Schreiber im Rathaus, die sich gern
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