Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
zufällig auf meiner Werft gelandet.«
»Wollt Ihr etwa sagen, dass jemand nachgeholfen hat?«
»Jetzt habt Ihr es ja schon gesagt.«
»Pfui. Das ist schäbig. Das ist einer Witwe und Kollegin unwürdig.«
»Was ist unwürdig? Dass ich zwei und zwei zusammenzähle?«
»Hätte das Schicksal die arme Seele in mein Haus verschlagen, würde ich keine Sekunde zögern, ihn bei mir aufzunehmen und ihm jede erdenkliche Pflege zuteilwerden zu lassen.«
»Ist das wahr?«, fragte Anna, während der Bürgermeister erstaunt dreinblickte.
»Ich schwöre es«, sagte Schnabel.
»Ich warte.«
»Wie bitte?«
»Ich warte darauf, dass Ihr schwört. In Gegenwart des Bürgermeisters.«
Schnabel war nicht wohl dabei, aber er hob die Hand zum Schwur.
Anna sagte: »Dann hätten wir es ja soweit.«
Für Schnabels Verhältnisse wirkte sie zufrieden. Sehr zufrieden. Verdächtig zufrieden. Alarmierend zufrieden.
»Oh nein«, stieß Schnabel hervor, »das tut Ihr nicht.«
»Es passiert bereits. In diesem Augenblick.«
»Was passiert?«, fragte der Bürgermeister verwirrt.
»Der kranke Seemann wird ins Haus des Reeders Schnabel gebracht, damit er dort die beste Pflege erfährt, die denkbar ist.«
Während es vor Schnabels Augen dunkel wurde, ergriff der Bürgermeister seine Hand, schüttelte sie und sagte gerührt: »Das tut Ihr nicht für Euch allein, das tut Ihr für die ganze Stadt.«
»Das habe ich nie gesagt!«, rief Schnabel. Er mochte seine Stimme nicht, wenn sie laut wurde. Aber er musste protestieren, bevor das Unglück Gestalt annehmen konnte. Dann hatte er eben einen Meineid geleistet. Er war ein bekannter Kaufmann, er hatte einen Irrtum frei, eine lässliche Sünde.
Schnabel trat vor die Witwe. Sie hatte sich in den letzten Minuten nicht bewegt, stand, als sei sie festgenagelt.
»Das könnt Ihr nicht tun«, jammerte er. »Ich habe eine Familie.«
»Vielleicht hat der Seemann auch eine Familie. Wie heißt er eigentlich?«
»Das tut nichts zur Sache«, antwortete Schnabel.
» Lundberg .«
»Was?«
»Er heißt Lundberg . Ties Lundberg , und er stammt aus Malmö.«
Schnabel lachte. »Das könnt Ihr gar nicht wissen«, rief er, glücklich, die Witwe bei einer Flunkerei ertappt zu haben. »Das könntet Ihr nur wissen, wenn Ihr mit ihm geredet habt. Das habt Ihr aber nicht. So dumm ist keiner, mit einem Pestkranken zu reden.«
Er brach ab und starrte die Witwe an. Warum blickte sie immer noch so zuversichtlich drein wie vor einer Minute? Warum brach sie unter Schnabels Beweisführung nicht in 1.000 Stücke?
»Ihr habt nicht mit ihm gesprochen«, stieß er hervor. »Keiner hat mit ihm gesprochen. Außer der alten Schlüter. Und Eurem Zeichner. Aber mit denen hat auch keiner gesprochen. Also sprecht Ihr nicht die Wahrheit.«
»Sie sagt doch gar nichts«, rief der Bürgermeister dazwischen. »Ihr redet doch wie aufgezogen die ganze Zeit.«
Der Reeder starrte Goldinger an, so lange, bis der einen Schritt zurückwich. Dann starrte der Reeder die Witwe an. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich geändert. Bisher unergründlich und unbewegt, zeigte sich jetzt ein neuer Ausdruck: Mitleid.
27
»Er weiß nichts. Er ist nicht informiert. Ich habe gesehen, wie er begriff, dass ein Spiel gespielt wird, von dem er nichts weiß. Er hat mich angestarrt, als könne er nicht bis drei zählen. So sehr kann man sich nicht verstellen.«
»Gebt es zu, Ihr mögt ihn doch!«, rief Hedwig Wittmer . Wenn sie lachte, laut und scheppernd, konnte man sich leichter als sonst vorstellen, dass sie mit einem Mann verheiratet war, der Bier braute.
Die Freundinnen saßen im Frauenzimmer, wie Anna den Raum nannte, der ihr im Haus der liebste war. Hell, weil in der ersten Etage, freundlich, weil alle dunklen Hölzer an Wänden und Decken entfernt und durch frische Hölzer ersetzt worden waren. Kein dunkles Möbelstück fraß Licht, helle Buche und Eiche erzeugten eine freundliche Atmosphäre, die der Bewohnerin in der Seele gut tat.
Sie waren nur zu fünft, die Piratin war in unbekannten Geschäften unterwegs. Aber die anderen waren da: neben der Gastgeberin und der Brauergattin Trine Deichmann, Sybille Pieper und die Prinzessin.
»Immerhin ist er ein Kollege«, entgegnete Anna Rosländer, »wenn er mich auch nicht mag, weil er meinen Mann nicht mochte. Ich bin verblüfft, wie leicht manche Menschen ihre Abneigungen vererben.«
»Ich könnte ihm den Dödel weghexen«, bot Sybille an. Kiebig hielt sie den erstaunten Blicken stand. »Ich kann das«,
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