Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
auf ihrer Hebammen-Runde schaute Trine bei Hedwig vorbei. Die Frauen duzten sich mittlerweile und sahen sich auch im kleinen Kreis. Der Älteste der Wittmers ging im väterlichen Betrieb in die Lehre und gab zu Hause mit dem Gelernten an. Hedwig musste deutlich werden, um den Angeber aus dem Raum zu bekommen. Danach stürzten sie sich in den Klatsch. Anna Rosländer war verliebt! Beide wussten es aus erster Hand, wenn auch nicht von Anna oder Leonhard persönlich.
»Ich gönne es ihr so«, sagte Hedwig verträumt. »Wäre ich nicht glücklich verheiratet, würde ich auch gern noch einmal verliebt sein. Und du?«
»Ich? Oh, ich weiß nicht. Darüber habe ich nie nachgedacht.«
»Trine Deichmann, manchmal übertreibst du es mit der Nüchternheit.«
Dass der Bau des Schiffes weitergehen würde, stand für die Freundinnen nicht in Frage. Jetzt erst recht.
H
»Sie ist was? Glücklich? Warum ist die Schabracke denn glücklich? Ein neuer Mann? Was für ein Unglück.«
Auch auf dem Rathaus machte die Neuigkeit die Runde. Wo viele Männer zusammen waren, fiel die Lust auf Klatsch besonders kraftvoll aus. Nicht jeder konnte sich Anna mit einem neuen Partner vorstellen. Dafür hatte sie mit Rosländer ein zu starkes Gespann gebildet. Es fragte auch niemand nach Liebe, denn Liebe war keine Voraussetzung für eine Partnerschaft. Abneigung wäre hinderlich gewesen, aber Liebe musste nicht vorhanden sein. Wichtiger war, wie gut das Paar geschäftlich ineinandergriff . Und da stand es zum Allerbesten: eine Werftbetreiberin mit einem Holzhändler!
»Das passt«, knurrte Schnabel und verschränkte die Finger beider Hände ineinander, »da beißt die Maus keinen Faden ab. Das wäre genauso, als wäre ich mit Anna verbandelt .«
Natürlich hatte er in einer stillen Minute daran gedacht, er war ja nicht dumm. Jeder Kaufmann dachte vor der Hochzeit darüber nach, wie seine perfekte Gattin beschaffen sein sollte. Schnabels Frau entstammte einer Familie von kleinen Händlern und Handwerkern. Das war besser als nichts und weniger als ein Traum. Anna Rosländer gehörte zu den drei besten Lübecker Partien – falls man keinen Wert auf Kinder legte. Aber jeder Mann wollte Kinder haben, Söhne jedenfalls. Mädchen nahm man, wenn sie kamen, und behandelte sie liebevoll. Aber Mädchen waren keine Investition in die Zukunft, sie waren Verzierung. Wenn man Pech hatte, handelte man sich einen Schwiegersohn ein, der schwach war, unfähig, arm und unstet. Wenn man Glück hatte, erwischte man einen guten Mann aus Lübeck.
Anna Rosländer und der Holzhändler – das war zu schön, um wahr zu sein. Schnabel, der sich bei aller Bescheidenheit für einen patenten Kuppelvater hielt, wollte selbst bei längerem Nachdenken keine glücklichere Partie einfallen. Schnabel kannte den Holzhändler, jeder Reeder kannte ihn. Bevor er begonnen hatte, eigene Schiffe bauen zu lassen, war er ein guter Kunde gewesen. Dass Rosländer die Aufträge an Land gezogen hatte, war keine Überraschung gewesen. Er war der Typ, um sich solche Aufträge zu sichern. Das war ja das Empörende an dem Mann gewesen. So unverschämt er gewesen war, so beeindruckend war er gleichzeitig gewesen.
Ratsherr Voigt, der Spiddel , brachte die vorherrschende Stimmung auf den Punkt: »Unsere Anna hat eine Glückssträhne. Erst stirbt ihr Gatte und hinterlässt ihr ein Riesenvermögen. Dann baut sie ein Riesenschiff, weil sie unsterblich werden will, und fängt es so geschickt an, dass sich niemand traut, ihr in die Suppe zu spucken. Und nun schnappt sie sich den Mann, der am besten zu ihr passt. Wenn die beiden es geschickt anfangen, gehört ihnen bald das Baltische Meer.«
38
Am Nachmittag war ein Bote bei Joseph Deichmann erschienen. Zehn Personen, der größte Tisch, keine Extrawünsche. Gegen 21 Uhr hielten sie Einzug.
»Dass ich das noch erleben darf.« Versonnen stand Joseph an der Theke und sah zu, wie der Tisch auf Touren kam. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit. Anna Rosländer und ihr Partner bildeten das Zentrum, um das Sonne, Mond und Sterne kreisten. Anna hatte in den ersten Monaten ihrer Witwenschaft nicht den traurigen Raben gegeben. Schwarz hatte sie getragen, aber nicht lange, dann hatte sie sich mit braun etwas aufgehellt – alles in Maßen, sie wurde nicht plötzlich zum Papagei. Aber sie hatte nicht so dick aufgetragen wie andere Witwen. Die wurden mit dem Tag der Beerdigung des Gatten unsichtbar, sie tauchten nicht mehr im Stadtbild auf und
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