Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
in der Regel unter sich, wie die Bürger Lübecks unter sich blieben. Berührungspunkte gab es bei festlichen Anlässen, sonst wahrte jede Seite ihr Terrain. Im Grunde herrschte auf beiden Seiten herzliches Desinteresse an der Lebenswelt der anderen. Man hielt nichts voneinander, aber man respektierte sich. Abseits der Städte besaß das Wort des Adels noch Kraft. Auf den Gütern im Osten spielten sich die Barone und Grafen als kleine Könige auf, in den Residenzstädten des Südens pflegten die Adeligen sich zu benehmen, als würde man in der Zeit 500 Jahre zurück sein.
Das änderte alles nichts an der Tatsache, dass die Lübecker gern gewusst hätten, was denn die Prinzessin und ihre Maler-Leibeigenen so eifrig malten. Gesichter? Gegenstände? Erfundenes oder Wahres? Farbiges? Mythologisches? Szenen aus der Seefahrt?
Man wollte nicht neugierig erscheinen, aber man wollte wissen, was in der Malerwerkstatt vor sich ging. Ein, zwei Fragen, ein, zwei Antworten, und man wäre zur Tagesordnung übergegangen. Die Fragen wurden gestellt, doch die Antworten blieben aus. So musste die Tagesordnung warten. Denn nun waren die Fragensteller verblüfft, der Ton der Fragen nahm an Dringlichkeit zu, verschärfte sich, um danach eingeschnappt zu verstummen. Es war nicht möglich, Antworten zu erhalten. Stattdessen machten Ausflüchte die Runde. Angeblich hatte die Prinzessin sich weitschweifig geäußert, über einen künstlerischen Schaffensprozess habe sie schwadroniert, über das Entstehen des Pinselstrichs im Zuge des Malens. Niemand nahm ihr das ab. Ein Heringshändler wusste nicht erst während des Befüllens, dass er Fische in Fässer stopfte, ein Barbier, der die Zange um den verfaulten Backenzahn schloss, wusste schon vorher, was er aus dem stinkenden Maul ziehen würde.
Kunst war ein Handwerk wie jedes andere, jeder Kaufmann kannte einen Künstler, wenn auch die meisten nur Künstler wie Adam Kropf kannten. Doch Kropf war die Speerspitze der bildenden Kunst in Lübeck und sorgte dafür, dass er es blieb. Mehr als ein junger Kollege hatte nach kurzer Zeit den Wohnort gewechselt, weil er die Hänseleien und Intrigen des Kropf nicht mehr ertragen mochte. Im Fall der Prinzessin verbot sich solches Benehmen. So zog sich Kropf auf das einzige Feld zurück, auf dem man ihm Kompetenz zuschrieb. Er äußerte sich zum Talent der Prinzessin und ihrer Kollegen. Das war nicht ohne Pikanterie, denn einst hatte er der Prinzessin Unterricht gegeben, jeder Tadel wäre zwangsläufig auf ihn zurückgefallen. Die anderen Maler kannte er nicht.
So rettete sich Kropf in die Kunst, die er als zweite beherrschte: die Kunst der Unterstellung und des Schlechtmachens. Zwar lebte eine Handvoll kunstsinniger Menschen in Lübeck, die in der Lage gewesen wären, ihm in den Arm zu fallen. Doch waren diese von morgens bis abends berufstätig, während der Kropf lange schlief, wenig malte und viel aß. Niemand hatte mehr Zeit als er, um herumzugehen und seine Meinungen loszuwerden, wie der Fuchs das Revier durchstreift, um seine Markierungen abzusetzen.
Bald gab es keinen Zweifel mehr: Die minder talentierte Prinzessin malte an einem Bild, auf dem sie sich über die Lübecker lustig machen wollte. Sie unterstellte den wackeren Menschen kein Verbrechen und keine Dummheit. Sie tat nichts, wofür man sie vor den Richter ziehen konnte – vorausgesetzt, jemand wäre so tollkühn gewesen, die Tochter des einflussreichen Fürsten zu behelligen. Doch die Prinzessin wollte die Lübecker in Verkleidungen stecken, in die Kostüme der italienischen Spaßmacher, die stolperten und hinfielen, die weiße Gesichter hatten und hohe spitze Hüte trugen, die sie als Narren und Gaukler kenntlich machten.
»Sie ist so jung, unsere Prinzessin«, verkündete Kropf in der vorgeblichen Ernsthaftigkeit, die sein Markenzeichen war. »Sie weiß nicht, was sie tut, und die Witwe nimmt ihr nicht den Pinsel aus der Hand.«
Langsam begannen sich die Lübecker Fragen zu stellen. Man hatte die Witwe zu Beginn vielleicht vorschnell bekämpft. Man hatte mit der Pest-Lüge übers Ziel hinausgeschossen. Aber durfte man nicht trotzdem oder gerade deshalb von der Witwe den Willen zur Zusammenarbeit erwarten? Alles, was von Anna Rosländer überliefert wurde, waren Äußerungen wie: »Die Prinzessin weiß, was sie tut.«
H
Der Zufall wollte es, dass sich Anna Rosländer in diesen heiklen Tagen häufiger im Stadtbild sehen ließ als bei ihr üblich. Sie war nicht allein,
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