Die Äbtissin
Willen. Ich wurde sehr krank, man fürchtete um mein Leben. Gott hat nicht gewollt, dass ich damals starb, weil er anderes mit mir vorhatte. Meine Eltern versuchten einen Mann für mich zu finden, aber in meinem Herzen war kein Platz mehr für einen anderen Mann. Obwohl sie meinen Wunsch zunächst ausschlugen und meine Entscheidung sie schmerzte, gestatteten sie mir, den Schleier zu nehmen, und seither bin ich Nonne. Ich war glücklich in all diesen Jahren, und oft denke ich, dass das, was zunächst wie ein grausames Spiel des Schicksals erscheinen mag, nichts anderes ist als der Weg, der uns schon vor unserer Geburt bestimmt wurde…«
Die Glocke rief zum Mittagessen und unterbrach die Worte der alten Ordensfrau, und die beiden begaben sich ins Refektorium.
Die Nonnen hatten ihre Plätze auf den langen Bänken eingenommen, die entlang der Wände des Saales standen. Am Kopfende hatte Doña Elvira den Ehrenplatz am Tisch der Äbtissin inne, die beiden Marías saßen zu ihren Seiten. Die Schwester, die an diesem Tag an der Reihe war, sprach das Gebet und las eine Passage aus den Bekenntnissen des heiligen Augustinus, des Ordensgründers.
Während María der monotonen Stimme der Vorleserin lauschte, betrachtete sie den Raum mit größerer Aufmerksamkeit als so viele Male zuvor. Die gänzlich schmucklose Holzdecke, die getäfelten Wände und die geteilten, doppelten Fensterläden, die im Augenblick weit geöffnet waren, denn obwohl draußen eine sengende Hitze herrschte, war es im Inneren kühl, und man wollte die natürliche Wärmequelle der Sonne so gut wie möglich nutzen; den Fußboden mit den bunten Tonfliesen…
Was diese Wände alles gesehen haben… dachte sie.
Sie sah die Dinge nun aus einem anderen Blickwinkel und fragte sich, warum Katharina, eine Tochter Johanns II. und seiner ersten Gemahlin María von Aragón, den Entschluss gefasst hatte, hier in diesem Kloster den Schleier zu nehmen. Seit damals waren über fünfzig Jahre vergangen, in denen aus dem kleinen Heiligtum zu Ehren des heiligen Hilarión das Kloster Nuestro Señora de Gracia vor den Toren geworden war.
Ihr Blick wanderte zur Stirnseite des Saales, wo ein Porträt der Katholischen Könige Isabella und Ferdinand hing, ein Geschenk der Königin, das früher den Audienzsaal im Palast ihres Vaters geschmückt hatte. Sie hatte es Hunderte Male angesehen, doch nun sah sie es mit anderen Augen. Das Bildnis zeigte die Könige vom Gürtel aufwärts, zu einer Zeit, als sie schon nicht mehr ganz jung gewesen waren. Sie standen nebeneinander, den Blick auf zwei verschiedene Punkte gerichtet. Doña Isabella trug ein goldbesticktes rotes Brokatgewand und einen dünnen Schleier, der ihr damals noch kastanienbraunes Haar bedeckte, das ihr bis auf die Schultern reichte. Um den Hals trug sie eine schwere goldene Kette, an der eines jener mit Edelsteinen besetzten Geschmeide hing, die sie so sehr geschätzt hatte. Ein weiteres Schmuckstück, etwas kleiner, war mit einem Samtband am Ärmel ihres Kleides befestigt. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. Der Blick war starr und die Wangen gerundet; der Mund klein und fest geschlossen, vielleicht der einzige Zug, der einen eisernen, unbeugsamen Willen verriet.
María verweilte nicht lange bei dem Bildnis der Königin. Sie wollte im Augenblick nicht an deren Hass und Beteiligung an ihrer Entführung und der ihrer Mutter denken.
Später, dachte sie, später… wenn ich die Gedanken ein wenig geordnet habe, die in meinem Kopf umher schwirren, wenn ich ein wenig ruhiger denken kann.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gestalt des Königs. Er schien um die dreißig Jahre alt zu sein. Sie rechnete rasch nach und kam zu dem Ergebnis, dass das Porträt vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren gemalt worden sein musste, ungefähr zur selben Zeit, als sie nach Madrigal gekommen war. Sie studierte aufmerksam die Gesichtszüge des Mannes, von dem sie seit kurzem wusste, dass er ihr Vater war. Er trug ein Wams aus dunkelgrünem Samt, auf dem eine schwere goldene Gliederkette ruhte; darunter war das bestickte Leinenhemd zu sehen. Er hatte große Augen unter recht ausgeprägten Brauen, eine gerade Nase und volle Lippen, umrahmt von einem nicht sehr dichten Bart. Das vorne kurz geschnittene Haar fiel ihm bis über die Schultern. Wie bei der Königin ließ das Porträt nichts von seinen Empfindungen erkennen, doch er machte einen selbstsicheren, ehrgeizigen Eindruck.
So selbstsicher und ehrgeizig, dass er keinen
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