Die Äbtissin
entfernt.«
Johanna schien ihren Erinnerungen nachzuhängen und sagte nichts. María respektierte ihr Schweigen und betrachtete sie mit wachsender Zärtlichkeit.
»Als ich etwa zwölf Jahre alt war«, sagte Johanna schließlich, »hörte ich in der Burg von Medina eine Unterhaltung zwischen dem Königspaar mit an. Sie sprachen laut und nicht sehr freundlich. Ich befand mich alleine im Spielzimmer der Infanten, und die Gemächer der Königin waren gleich nebenan. Zunächst schenkte ich dem Gespräch keine sonderliche Beachtung, doch dann…«
Sie hielt inne, erschreckt über diesen Moment der Vertraulichkeit gegenüber einer Person, die sie soeben erst kennen gelernt hatte. María wollte um nichts in der Welt, dass sie ihre Schilderung unterbrach und ermunterte sie, fortzufahren.
»Sprachen sie vielleicht über das Kloster? Ihre Hoheit die Königin pflegte uns zu besuchen, wenn sie sich einige Tage im Palast ihres Vaters aufhielt.«
»Ja… sie sprachen über das Kloster und sie wirkten aufgebracht, vor allem die Königin. Sie sprachen über…«
Sie stockte erneut. Es war offensichtlich, dass sie nicht mehr erzählen wollte. María wagte es, die Frage zu stellen, deren Antwort sie sich bereits denken konnte.
»… über die Töchter Don Ferdinands, die dort lebten?«
Johanna wechselte die Farbe.
»Woher wisst Ihr das? Am Hof war nie die Rede von diesen Töchtern. Niemand wusste von ihrer Existenz.«
»Ich weiß. Auch wir wussten nichts davon, bis uns vor einigen Monaten ein Sendschreiben Seiner Heiligkeit erreichte, in dem der Papst auf Ersuchen des Königs dessen beiden Töchter anerkannte. Ihr könnt Euch vorstellen, wie überrascht sie waren, von ihrer Herkunft zu erfahren und zu erkennen, dass sie Schwestern waren und so viele Jahre miteinander gelebt hatten, ohne um das Band zu wissen, das sie vereinte.«
»Dann… dann kennt Ihr sie. Wie alt sind sie? Wie sehen sie aus? Ähneln sie mir?«
María hielt es nicht länger aus.
»Seht selbst, Johanna.«
Die Prinzessin sah sie stumm an.
»Ihr seid…«
»… María Esperanza de Aragón, Eure Halbschwester.«
Es war das erste Mal, dass sie ihren vollständigen Namen nannte, und ihre Stimme bebte vor Rührung.
Die beiden Frauen unterhielten sich stundenlang. Sie nahmen sich das Wort aus dem Mund, sie lachten und weinten und umarmten sich. Es war einer der glücklichsten Momente ihres Lebens.
Johanna kam sie nun jeden Tag besuchen. María bat sie, ihrem Mann nichts über ihre Identität zu sagen, da sie versprochen habe, das Geheimnis für sich zu behalten. Es war ein Versprechen, das sie bereits zu brechen begonnen hatte. Von Johanna erfuhr sie, dass die Beziehung zwischen Don Bernardino und Don Ferdinand nicht so herzlich war, wie sie unter Verwandten hätte sein sollen. Der kastilische Adlige sah es nicht gerne, dass sich der aragonesische König in die Angelegenheiten Kastiliens einmischte. Er hatte sogar Philipp den Schönen gegen den gemeinsamen Schwiegervater unterstützt und ihn und die unglückliche Doña Johanna bei ihrer Ankunft aus Flandern in seinem Haus aufgenommen – obwohl Philipp gefordert hatte, dass die Gattin des Kondestabels, die Halbschwester seiner eigenen Gemahlin, für die Dauer ihres Aufenthaltes ihr eigenes Haus verließ, weil er nicht wollte, dass die neue Königin von Kastilien Beziehungen zu ihren Verwandten unterhielt.
»Ich habe Johanna vor einigen Wochen gesehen«, teilte María ihr mit.
»Wie geht es ihr?«
»Schlecht.«
»Die arme Johanna… Bei Philipps Tod und während ihres Aufenthalts in Burgos bin ich bei ihr gewesen. Auch in Arcos, als unser Vater sie für einige Monate in der Obhut meines Mannes ließ, bevor er sie endgültig nach Tordesillas brachte. Das Volk beginnt sich zu erzählen, dass sie verrückt geworden sei. Ich hingegen glaube, dass sie eine unglückliche Frau ist, die nicht die Stärke ihrer Mutter besitzt und nur geliebt werden möchte.«
Vielleicht hat sie Recht, dachte María. Vielleicht ist meine arme Schwester gar nicht so verrückt, wie alle glauben, und nicht Eifersucht oder die Leidenschaft zu ihrem ehrgeizigen Ehemann haben sie der Welt entfremdet, sondern mangelnde Liebe.
Sie fühlte sich vom Glück begünstigt. Zwar hatte sie ihre Mutter verloren, doch dafür hatte sie ein Zuhause bei den Schwestern in ihrem geliebten Kloster in Madrigal gefunden. Ihre Augen wurden feucht bei dem Gedanken an all die verlassenen Menschen, mochten sie mächtig sein oder von einfacher Herkunft, die
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