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Die Äbtissin

Die Äbtissin

Titel: Die Äbtissin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Toti Lezea
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die Knochen weh täten von den vielen Stunden auf dem Karren, und drängte darauf, sich unverzüglich auf die Suche nach dem Kloster der Augustinerinnen zu machen. María achtete nicht auf ihr Gejammer und ging ins Innere der Kirche, gefolgt von allen außer Antoñino, der sich nach einer Tränke für das Pferd umsah.
    Der Innenraum der Kirche war noch beeindruckender. Düster. Gewaltig. Es roch nach Weihrauch und dem Wachs Hunderter von Kerzen, die vor den Altären flackerten. María fühlte sich wie ein Grashalm inmitten eines Weizenfeldes. Ihre Augen vermochten all diese Herrlichkeit nicht zu fassen und sie wandelte umher, ohne entscheiden zu können, was sie am meisten in Staunen versetzte: die Kapellen, die Altarbilder, die Fenster, die Gemälde, die Reliefmedaillons, die wundervolle goldene Treppe, ein Werk des Künstlers Diego de Siloé… Schließlich kniete sie vor dem wundertätigen Christus nieder, gemeinsam mit vielen anderen, die in stillem Gebet oder mit lauter Stimme die göttliche Barmherzigkeit erflehten. Sie wusste nicht, wie lange sie in dieser Haltung verharrte. Sie betete nicht. In ihrem Geist herrschte eine friedvolle Leere. Die Ereignisse der vergangenen Monate, die ihre Seele zuweilen mit Angst, zuweilen mit Unruhe erfüllt hatten, lösten sich auf wie Salz in Wasser.
    Als sie die Kathedrale verließen, wartete Antoñino am Fuß der Freitreppe. Er hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass sich das Kloster der Augustinerinnen am anderen Ende der Stadt befand. Er und Joaquina fuhren mit dem Karren voraus, während María, Inés und der Hauptmann die Gelegenheit nutzten, um einen Spaziergang zu machen und sich die Stadt anzuschauen.
    Burgos war größer als Medina und Valladolid. Die Stadt hatte mehr Einwohner und die Häuser waren hoch und solide, viele davon aus Stein und Ziegel erbaut. Dadurch waren sie gefeiter gegen Angriffe und Feuersbrünste, die häufig ganze Dörfer, deren Gebäude für gewöhnlich aus Holz waren, in Schutt und Asche legten. Es gab auch Paläste mit großen Adelswappen an den Fassaden. Doch am meisten stachen María die vielen Bäume und Gärten ins Auge, die man überall sah. Das Blau des Himmels, das Grün der Pflanzen und der gleichförmig dahinfließende Arlanzón machten die von Mauern umgebene Festung vergessen, die Zeuge so vieler grausamer Schlachten gewesen war. Es war ein friedvoller Ort, und seine Bewohner waren liebenswürdig und zuvorkommend zu den Fremden, die ihn besuchten.
    Ein Blinder, der an einem Brunnen saß, deklamierte Verse und begleitete seinen Vortrag mit Klängen, die er einem kleinen alten Psalter entlockte. Sie blieben stehen, um ihm zu lauschen.
     
    Aus des Helden Augen tropften traurig Tränen,
    Und noch einmal
    Drehte er den Kopf. Noch einmal
    Schaut zurück der Cid zum Abschied.
    Sieht die Türen leer und offen,
    Sieht die Klinken ohne Schlösser,
    Sieht die leeren Falkenständer
    Ohne Mäntel, ohne Hauben,
    Ohne Falken, die die Federn
    Sonst dort spreizten in der Sonne.
    Cid Rodrigo seufzt, und Kummer
    Würgt ihm tief in seiner Kehle.
    Langsam fängt er an zu reden,
    Ruhig und gerecht wie immer:
    Dank sei dir, mein Herr und Vater,
    Der du bist im Himmel droben!
    Böse Feinde, mir zum Unheil,
    Haben diesen Trug geflochten.
     
    »Was rezitiert der alte Mann da?«, fragte Inés den Hauptmann.
    »El Cantar del mío Cid, meine liebe Inés«, antwortete dieser. »Die Einwohner von Burgos halten die Erinnerung an den für seine Heldentaten berühmten Ritter so lebendig, als handelte es sich um einen Schutzheiligen. Eigentlich heißt er Rodrigo Díaz de Vivar, der Name ›E1 Cid‹ stammt von den Mauren.«
    María bemerkte die Röte, die Inés bei der Anrede meine liebe Inés zu Gesicht stieg, doch das Mädchen tat unbeeindruckt und fragte weiter.
    »Und wann hat dieser Ritter gelebt?«
    »Vor etwa vierhundert Jahren…«
    »Und seitdem rezitieren die Leute in der Stadt dieses Gedicht?«
    Der Hauptmann lächelte. Es machte ihm Freude, sein Wissen unter Beweis stellen zu können. Er war nicht studiert, konnte kaum lesen und lediglich seinen Namen schreiben, aber er begeisterte sich für die Geschichte, vor allem, wenn sie von Heldengestalten handelte.
    »Nicht ganz«, antwortete er. »Allem Anschein nach wurde das Gedicht erst nach dem Tod des Helden verfasst. Aber viele in Burgos kennen es und lernen es bereits als Kinder.«
    Er wühlte in seiner Tasche und zog eine kleine Silbermünze hervor, die er dem Blinden überreichte.
    »Unser Herr

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