Die Äbtissin
Eindruck.
María wollte eben einige Porträtgemälde in Augenschein nehmen, die an den Wänden hingen, als sich die Tür öffnete. Auf der Türschwelle erschien ein schlanker, ein wenig gebeugter Mann mit langem, vollem, schlohweißem Haar. Als sie den Gruß des Mannes erwiderte, erkannte sie ihre eigene Stimme nicht wieder. Der Blick des alten Herrn fiel sofort auf Inés, mit einem Ausruf des Überraschens breitete er die Arme aus und drückte sie fest an sich. Die beiden unterhielten sich einige Minuten in ihrer Sprache, dann deutete Inés mit dem Kopf in ihre Richtung.
»Inés hat mir gesagt, dass Ihr die Äbtissin des Klosters seid, in dem sie nach ihrer Flucht aus Bilbao Aufnahme fand«, sagte Don Pedro auf Kastilisch zu ihr. »Ich bin Euch zu großem Dank verbunden, dass Ihr sie uns zurückgebracht habt.«
María antwortete nicht sofort, und als sie es tat, gingen ihr die Worte nur schwer über die Lippen.
»Das ist nicht der eigentliche Anlass unseres Besuchs, Señor, obgleich tatsächlich etwas unternommen werden muss, was ihre Situation betrifft. Ich bin davon überzeugt, dass sie nicht für das Ordensleben bestimmt ist. Der Grund unseres – und besonders meines – Hierseins ist indes kein anderer, als mit Euch über Eure Schwester Toda zu sprechen.«
Als er den Namen seiner Schwester hörte, verzog sich das Gesicht des Alten schmerzlich.
»Was wisst Ihr über Toda? Habt Ihr sie gesehen? Lebt sie noch? Bei Gott, so sprecht doch!«
Aus seinen Fragen sprach Ungeduld, und jede seiner Fragen war wie ein Stachel, der sich in Marías Seele bohrte. »Ich vermag Euch keine Antwort zu geben, Señor, denn ich weiß es nicht.« Dann sagte sie zu sich selbst: »Nichts in der Welt täte ich lieber.«
Etwas in ihrer Stimme, die Trauer vielleicht, ließ Pedro de Larrea aufhorchen. Er trat näher, um Marías Gesicht besser betrachten zu können. Sie konnte zuerst Überraschung in seinen Augen sehen und dann eine tiefe Rührung. Seine Stimme zitterte, als er fragte:
»Wie heißt Ihr?«
»María Esperanza de Aragón.«
Der Mann schlug die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei. Sie sahen sich lange wortlos an, mit feuchten Augen und bebendem Herzen, bis sie sich fest in die Arme schlossen und ihren Tränen freien Lauf ließen.
Zur großen Überraschung der Wirtschafterin bat Don Pedro die Besucherinnen nach oben in seine Gemächer. Er gab Anweisung, ein üppiges Mahl zu bereiten und nicht an Gemüse, Fleisch und Fisch zu sparen. Dann sandte er einen Diener, um der Äbtissin von La Esperanza mitzuteilen, dass die beiden Nonnen nicht vor Einbruch der Dunkelheit ins Kloster zurückkehren würden.
Sie hatten sich viel zu erzählen. Don Pedro wollte alles über María wissen. Sie bezähmte ihre Ungeduld, etwas über ihre Mutter zu erfahren, und beantwortete all seine Fragen, ergänzt um das, wonach er nicht gefragt hatte. Sie berichtete von ihrem Leben im Kloster, wie ihr erst vor wenigen Monaten ein Teil des Geheimnisses enthüllt worden war, das sich um ihre Geburt rankte, und sie den Entschluss gefasst hatte, alles über ihre Mutter und ihre Familie in Erfahrung zu bringen. Danach war die Reihe an ihr, doch sie hatte nur eine Bitte:
»Erzählt mir von meiner Mutter, Onkel. Erzählt mir von Toda.«
Erneut zeigte sich Schmerz im Gesicht des Alten, seine Stimme aber klang gefasst. Toda war seine kleine Schwester. Von den sechs Kindern, die ihre Eltern bekommen hatten, hatten nur sie beide die Kindheit überlebt. Da er um einige Jahre älter war, hatte er sich verpflichtet gefühlt, auf sie Acht zu geben, sie zu beschützen und auch einmal zu ermahnen, wenn sie aufgrund ihres fröhlichen Naturells unbesonnen handelte und die Haltung vermissen ließ, zu der eine Tochter aus vornehmem Hause verpflichtet war. Als sie fünfzehn wurde, hatte ihre Familie beschlossen, sie mit Martín Sánchez de Arana zu verloben, einem Sohn aus einer einflussreichen biskayischen Familie. Die beiden kannten sich von Kindesbeinen an, und es war offensichtlich, dass sie einander mochten. Die Familien machten die Verlobung offiziell, weil sie große Hoffnungen in die Zukunft des Paares setzten. Nichts schien den Lauf der Dinge erschüttern zu können, bis eines Tages die baldige Ankunft Don Ferdinands in der Stadt verkündet wurde, des Krönprinzen von Aragón und Mitregenten Kastiliens. Er kam, um im Namen seiner Gemahlin auf die Fueros zu schwören.
Don Pedro seufzte, bevor er weitersprach.
Don Ferdinand sollte in den letzten
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