Die Ängstlichen - Roman
Astronomiekurs an der Volkshochschule Fulda besucht hatte, hatte seither eine gewisse Vorstellung davon, was sich dort oben ereignete, wenn das Licht auf der Erde schwand, sie in ihre Betten krochen und die Stunde der Himmelskörper anbrach. Zum Abschluss des Kurses hatten sie mit dem Bus einen Ausflug zur Volkssternwarte Wetterau in Bad Nauheim unternommen und im achteckigen Gemäuer auf der drehbaren Beobachtungskuppel der einstigen Bergkirche beim Blick durchs Teleskop Mars und Venus bestaunt. Dass der studierte Astrophysiker (ein Herr Brauer oder Breuer), der ihnen die verschiedenen Sternbilder erläuterte, sie bei der anschließenden Tasse Kaffee in dem Café-Restaurant direkt unterhalb des Turms ungeniert beflirtete, hatte sie Rainer damals natürlich verschwiegen. Dabei hatte sie es sichtbar genossen, unversehens in das Radar männlichen Begehrens geraten zu sein (denn auf Rainers Radar tauchte sie ja nur noch selten auf), und unter Brittas eifersüchtigen Blicken mehrmals unsicher glucksend, den immer offensiver werdenden Sternengucker sanft mit der Hand in seine Schranken gewiesen.
Sie war einfach nicht mehr geübt in derlei Dingen. Sie wusste, wie und wo sie die Spitze ihres Vibrators zwischen ihren entblößten Schenkeln platzieren musste, um ihren Unterleib in lustvolle Schwingungen zu versetzen; doch beim Flirten stellte sie sich an wie eine Anfängerin.
Sie hatte sich in der Aufmerksamkeit des Astrologen gesonntwie ein Gänseblümchen in den ersten Frühlingssonnenstrahlen. Doch als der sie sanft drängte, ihm ihre Telefonnummer zu überlassen, schrieb sie aus Angst, vom selbstgesteckten Pfad ihrer Tugendhaftigkeit abzukommen, irgendwelche Zahlen auf die Papierserviette (hinterher diffamierte sie den Sternengucker Britta gegenüber als zwar sympathischen, im Grunde aber ziemlich beschränkten Fachidioten, nur um selbst im Hinblick auf außereheliche Avancen nicht als bedürftig zu erscheinen).
Ulrike zog sich zurück von dem funkelnden Firmament und beschloss, die vor ihr liegende Nacht allein im Gästezimmer zu verbringen. Nicht, weil sie glaubte, Rainer könne sie mit irgendwelchen Bakterien anstecken (Natürlich konnte er das nicht! Niemand wusste das besser als sie!), sondern weil sie meinte, von dort aus alles klarer sehen zu können: ihr Leben, ihre Zukunft, alles. Und da war es plötzlich wieder, dieses schrecklich schöne »Erkenne dich selbst!«, hell und irritierend.
Ulrike trug das leere Glas in die Küche, holte aus dem Fernsehzimmer die »Hörzu«, in der sie vor dem Einschlafen noch ein wenig blättern wollte, löschte sämtliche Lichter im Parterre und ging hinauf ins Bad, wo sie sich die Zähne putzte und wie üblich ihre auf Naturkräutern basierende Hildegard-Braukmann-Nachtcreme im Gesicht auftrug. Als sie mit der Fernsehzeitung in der Hand im Gästezimmer in die kühlen Kissen sank, zeigte der kleine Braun-Wecker, den sie aus dem Schlafzimmer geholt hatte, 23.19 Uhr.
Rainer schlief ruhig und fest. Und trotz ihres verletzten Daumens, des vernichteten Rasenmäherkabels und des zu Bruch gegangenen Römers hatte Ulrike das Gefühl, am Ende eines ziemlich erfolgreich verlaufenen Tages angelangt zu sein, und spürte, wie ein wohliges Kribbeln über ihren Nacken glitt.
Sie setzte ihre Lesebrille auf, blätterte entspannt die »Hörzu« durch, las sich da und dort fest. Bis sie bei dem Programm fürden nächsten Tag angekommen war, dem Programm für Mittwoch, den 4. September 2003. Und plötzlich stockte ihr mit Blick auf die bunten Schautafeln der Atem: 4. September! – Sie hatte Claras Geburtstag vergessen, der in genau achtundzwanzig Minuten zu Ende ging!
S ie können nach Hause gehen, Herr … (der Mediziner warf einen raschen Blick auf das ihm hingestreckte Klemmbrett seines Assistenten zur Linken), Herr, äh, Jansen!«, sagte Professor Ammar und hielt Helmut, umringt von seinem Tross weiß gekleideter Jünger, die Hand hin.
»Wie?«, stammelte Helmut, der sich in seinem Bett aufgerichtet hatte. »Sie meinen, ich …«
»Der vermutete Tumor in Ihrer Blase hat sich als zwar nach innen gewachsenes, aber harmloses Geschwür erwiesen, das sich entzündet hat«, sagte der Mediziner, während er mit der linken Hand an irgendetwas in seiner Kitteltasche herumspielte. »Daher der Blutfluss.«
»Oh, da bin ich aber froh«, sagte Helmut freudig und machte Anstalten, das Bett zu verlassen. Dabei atmete er für alle hörbar so kräftig aus, als habe er seit Stunden die Luft
Weitere Kostenlose Bücher