Die Ängstlichen - Roman
fühlte Helmut sich wie neugeboren, und alles in ihm strebte danach, seinem wiedergewonnenen Lebensglück Ausdruck zu verleihen. Im Grunde wäre es ganz einfach gewesen: Er hätte bloß in einen dieser schon am Vormittag geöffneten Läden rund um die Krämerstraße reinspazieren und ein paar Hunderter zücken müssen, und der Rest wäre wie von selbst abgelaufen: Sekt, Frauen, na, das Übliche eben.
Doch Helmut entschied sich für die weniger kostspielige Variante: Er betrat das »Café Schien« am Westbahnhof, wählte einen der sonnigeren Fensterplätze und bestellte sich ein Glas Piper Heidsieck, dessen köstliches, fruchtig-herbes Prickeln ihn wenige Minuten später endgültig in Hochstimmung versetzte.
Ja, er kam sich vor wie der Leiter einer Urwaldexpedition, der furchtlos einer ganzen Horde wilder Tiere getrotzt hatte und unbeschadet in die Zivilisation zurückgekehrt war. Und an seine Ängste, die ihn noch am Morgen geschüttelt hatten, konnte er sich inzwischen tatsächlich kaum mehr erinnern.
Sicher: Kein Mensch sah, vor allem nachträglich, seiner Feigheit gern ins Auge. Doch Helmut war diesbezüglich mit geradezu bewunderungswürdigen Verdrängungsmechanismen gesegnet. Und so hätte er geschworen, vom Krebsverdacht zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise aus der Fassung gebracht worden zu sein.
Die dunklen, schweren Wolken über seinem Leben waren so überraschend wieder verschwunden, wie sie herangezogen waren, und nichts stand einer umgehenden Wiederaufnahmeseiner alten, kurz zum Erliegen gekommenen Lebensgewohnheiten im Wege. Nur eines konnte Helmut sich trotz aller Souveränität, mit der er dem Schicksal aus seiner Sicht getrotzt hatte, partout nicht verzeihen: den Umstand, dass er, kurz nachdem er mit der OP-Überweisung in der Tasche nach Hause gekommen war, als Erstes ausgerechnet Ben angerufen und dessen Zuspruch gesucht hatte. Wieso ausgerechnet diesen Versager, den ganz im Gegensatz zu ihm selbst bereits der leiseste Windhauch umwarf? Helmut hätte diese Tatsache am liebsten auf der Stelle ungeschehen gemacht. Trotzdem, dessen war er sich sicher, würde dies nichts an seinem dauerhaften Großartigkeitszustand ändern.
E in Gefühl, das auch Ulrike in jenen seltenen kostbaren Augenblicken beschlich, in denen sie glaubte, das Schicksal nach Belieben lenken zu können. Als das Läuten der Türklingel sie unsanft aus dem Schlaf schubste, sie barfuß und im Bademantel zur Tür lief und diese zögerlich öffnete und aus der Hand des Boten sprachlos den Blumenstrauß entgegennahm, war ein solcher Moment. (Ihr war, als stünde sie in einem Schwall watteweicher, herrlich duftend auf sie herabfallender Schneeflocken, denen sie lüstern und mit geschlossenen Augen ihr Gesicht darbot wie früher Rainers Liebkosungen.)
Nachdem sie das Papier aufgerissen und ihre Nasenspitze begierig in die rostroten, intensiv duftenden Blüten getaucht hatte, jauchzte sie: »Baccara-Rosen!« (Die dem Strauß beiliegende Karte, ein Motiv von Klee, »Flamboyant Devil«, war mit »Dein Rainer« unterzeichnet – Frau Lieberwirth ahmte die Unterschrift ihres Chefs inzwischen nahezu perfekt nach.)
Den Strauß im Arm, lief Ulrike die Treppe hinauf und steuerteauf das Schlafzimmer zu, dessen Tür geschlossen war. Sie horchte, konnte aber nicht den geringsten Laut vernehmen, und so beschloss sie, Rainer (den Ärmsten) noch ein bisschen schlafen zu lassen. Sie lief weiter ins Badezimmer, drückte den Stöpsel in den Abfluss des Waschbeckens, platzierte den Strauß darin und drehte den Kaltwasserhahn auf.
Baccara-Rosen! Wie es aussah, hatte Rainer tatsächlich zu ihr zurückgefunden. Wie anders war dieses Zeichen zu deuten? Endlich!, jubelte ein Stimmchen in ihr. Nachdem sie sich geduscht und abgetrocknet hatte und ihr prickelndes Gesicht sanft unter einer erfrischenden Tagescremeschicht glühte, zog sie sich erneut den Bademantel über und lief, entschlossen, ihn im Schlaf zu überraschen, indem sie nackt zu ihm unter die Decke schlüpfte, hinüber ins Schlafzimmer.
»Schatz? Schläfst du noch?«, hauchte sie in die Tiefe des Schlafzimmers hinein und stieß, während sie die Schlaufe ihres sonnengelben Bademantels löste, die Tür auf. Und das war es, was sie sah: Rainers bereits stellenweise fadenscheinigen, kakaobraunen und an eine alte, verlassene Schlangenhaut erinnernden Boss-Pyjama zwischen den zerwühlten Laken, ein auf dem Boden liegendes Kopfkissen und das gekippte Fenster hinter dem halb heruntergezogenen
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