Die Ängstlichen - Roman
aller Kräfte davon abhalten konnte, etwas Dummes zu tun. Selbstmord? Nein! Selbstmord war in Konrads Augen etwas für Leute, die sich zu wichtig nahmen. (Konrad dachte eher an einen Anschlag auf die Assistenzärztin von Treuenbach, dieses Luder, deren provozierende Art, sich zu kleiden – Miniröcke unter dem weißen Kittel und hautenge T-Shirts, durch die sich die Nippel ihrer vollen Brüste drückten –, ihnanzog und abstieß zugleich!) Die Tatsache, dass er sein Leben für verpfuscht und wertlos hielt, hätte ihn zweifellos mehr als andere zum Suizid prädestiniert; doch die Dinge lagen anders. Nicht dass Konrad sich als Christ bezeichnet hätte, der an die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens glaubte, nein. Solche Gedanken machte Konrad sich nicht. Auch glaubte er nicht an Opfer, die man bringen musste, oder daran, dass jeder Mensch eine Seele hatte, die gerettet werden konnte. Der Grund, weshalb er die Abkürzung ins Jenseits beharrlich ausschlug, war viel simpler: Er brachte die Energieleistung und das planerische Denken, das ein Selbstmord erfordert hätte, nicht auf. Sich umzubringen erschien ihm viel zu kompliziert, zu anstrengend. Warum dem Schicksal vorgreifen? Dass er keine sechzig Jahre alt werden würde, war für ihn angesichts der drei Schachteln HB, deren Nikotin er tagtäglich inhalierte, beschlossene Sache. Die Lungenlappen in seiner Brust mussten mittlerweile aussehen wie verkohlte Koteletts, pechschwarz und so porös wie Knäckebrot. Von der Langzeitwirkung der Elektroschocks, die man ihm auf dem Eichberg verabreicht hatte, und all der Pillen und Kapseln, die er sein Leben lang geschluckt hatte, ganz zu schweigen. Doch noch existierte er, atmete und bekam alle zwei Wochen Besuch von seinem Neffen Ben, der ihm Zigaretten, eine Prinzenrolle von DeBeukelaer und eine Dose Maxwell-Kaffee brachte und ihm eine Zeitlang in der Cafeteria gegenübersaß.
Meist schoben sie ihre Sätze schon nach wenigen Minuten wie schwere Eisenkugeln angestrengt hin und her. Bis Konrad sich erhob, seinem Neffen die Hand hinstreckte und sagte: »Danke für alles!«, und zurück in sein Zimmer schlich.
Was geschehen sollte, geschah. Unausweichlich. Dessen war Konrad sich sicher. Nein, er glaubte nicht daran, dass einem im Leben Gerechtigkeit widerfuhr. Man hatte Glück oderPech, und er hatte eben Pech gehabt. Niemand trug dafür die Schuld, am allerwenigsten Johanna, die ihn unter amerikanischem Bombenhagel in einem Luftschutzkeller auf eine Welt gebracht hatte, in der sich kein guter Platz für ihn fand. Anders als Gold oder Kubik hatte Konrad vor langer Zeit aufgehört, mit seinem Schicksal zu hadern. Er saß in seinem Leben fest wie ein Häftling in der Zelle. Vor dem Fenster wurde es hell und wieder dunkel, und manchmal steckte jemand den Kopf herein. Wie auf einer mit weißer Kreide auf einen schwarzen Untergrund gemalten, sich am Horizont verlierenden Linie balancierte er seinem Ende entgegen. Bis ihm irgendwann die Luft ausgehen, die Linie abrupt reißen und das Knäckebrot in seiner Brust zerspringen würde. Doch Konrad fürchtete sich nicht vor dem Tod, sondern stellte ihn sich vielmehr als große Ruhe vor. Der Gedanke, nicht mehr da sein und nicht länger die Gesichter geisteskranker Menschen sehen zu müssen, war durchaus verlockend.
Bis zum Abschluss der mittleren Reife schien sein Leben genau wie das der anderen zu verlaufen: Er hatte mehr oder weniger unbeobachtet seine Kindheit im Schatten seiner zwei älteren Geschwister verbracht und sich daran weder sonderlich gefreut noch sich darüber beklagt.
Und alles schien störungsfrei auf eine Lehre als Steuerberater hinauszulaufen. Bis aus ihm unerklärlichen Gründen sein Kopf ihm nicht länger gehorchte und mit einem Mal andere für ihn entschieden. Doch all die Zeit war neben seinem Leben in wechselnden Anstalten das andere, frühere Leben weitergegangen und mitgelaufen, als eine Art Parallelleben, wie die Streifen eines Tuchs oder eines Schals, die einander haarscharf berührten und sich doch farblich deutlich voneinander abhoben. Vielleicht, so hatte Konrad noch manchmal gedacht, hatte ja tatsächlich eine Zeitlang die Chance bestanden, diesesalte Leben führen zu können. Doch dann waren die Würfel gegen ihn gefallen.
So hatte er sich hin und wieder vorgestellt, wie alles gekommen wäre, wenn er nicht krank geworden wäre: Er wäre in das andere Leben eingestiegen, wie man in einen Zug steigt, der abfahrbereit auf der anderen Seite des Bahnsteigs
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