Die Ängstlichen - Roman
seiner Finger, die er sich tags zuvor beim Falten der Kartons in der Therapiestunde zugezogen hatte. Inzwischen stand es 7:2 für ihn, doch Kubik gab sich einfach nicht geschlagen. Ruhelos hastete er nach den von Konrad mit immer größerer Ungenauigkeit geschlagenen Bällen, so dass es bald 9:9 stand. Doch nicht etwa, weil Kubik dessen schnell und aggressiv geschlagene Angriffsbälle mit unerreichbaren Returns beantwortet hätte, sondern weil Konrad ein Opfer seiner wachsenden Ungeduld wurde. Mal schlug er einen Longline-Ball ohne Not ins Aus, mal ließ er sich zu einem sinnlosen Rückhandschmetterball verleiten, der pfeilschnell ins Leere flog, ohne die Platte zu berühren.
Am Ende behielt Konrad glücklich mit 21:18 die Oberhand über Kubik, der seine knappe Niederlage in die Hände klatschend wie einen Sieg bejubelte. Doch die anerkennenden Blicke der anderen, die sich johlend um die Platte geschart und Kubik angefeuert hatten, trieben Konrad den bitteren Geschmack der Niederlage auf die Zunge. Ohne sich noch einmal umzusehen, lief er mit weit aufgerissenen Augen an ihnen vorbei.
Als Konrad in sein Zimmer kam, lag Gold noch in seinem Bett und bewegte, wie er das immerzu tat, seit er ihn besaß, seine rechte Hand im Rhythmus des eingeschaltet auf seinemNachttisch stehenden Taktgebers, als dirigiere er ein imaginäres Orchester.
«Stell das Ding ab!«, zischte Konrad, der keine Lust auf Golds Getue hatte, und setzte sich auf sein Bett.
Achtlos ließ er den Schläger neben sich auf den Boden gleiten. Wenn er die Therapiestunde hinter sich hatte und selbst im Bett lag und sich mit geschlossenen Augen und hinter dem Kopf verschränkten Armen auszuruhen versuchte, klang das monotone, unveränderliche Tack-Tack, Tack-Tack des Metronoms wie das Ticken einer Bombe, die Konrad in seiner Phantasie mehr als einmal detonieren sah.
Gold war schmächtig und etwas mehr als einen Kopf kleiner als Konrad, doch deswegen keineswegs zu unterschätzen, ein verschlagener Einzelkämpfer, der sich zur Wehr zu setzen wusste; mit Händen und Füßen und, wenn es sein musste, auch mit einem Brotmesser. Seit er einen Insassen in der Cafeteria jäh niedergestochen und dabei schwer verletzt hatte, weil der es gewagt hatte, ihm seinen Teller, auf dem zwei mit Marmelade bestrichene Scheiben Brot lagen, zu entreißen, machten die meisten einen Bogen um ihn.
»Kümmere dich um dein Zeug!«, antwortete Gold schroff, ohne Konrad anzusehen oder in der Bewegung seiner Hand auch nur einen Moment lang innezuhalten.
Konrad erhob sich, um den Taktmesser abzustellen. Doch Gold war schneller, fischte das braune Ding vom Tisch, drückte es kindlich, wie eine Puppe mit beiden Händen schützend, gegen die Brust und lachte auf.
Das Psychiatrische Krankenhaus Heppenheim lag am Ortsausgang der Stadt mit Sicht auf die sanften Erhebungen des Odenwaldes, hinter hochgewachsenen, dicht stehenden und offensichtlich von Armeen von Borkenkäfern geschundenen Weißtannen. Ein verborgenes, von einer Art Burgturm dominiertesAnwesen, in dessen engem kreisrundem Innenhof die Physiotherapeutin Eva Breuer, eine sehnige, an diesem Morgen von heftigen Menstruationsbeschwerden heimgesuchte Person Mitte dreißig, stand und mit dem beweglichen Teil der Gruppe die übliche Frühsportstunde abhielt. Mit weißen Adidas-Turnschuhen und einem senfgelben Sportdress der Marke Nike bekleidet sowie einer schwarz glänzenden Trillerpfeife im Mund, dirigierte sie die aus sechzehn mehr oder weniger schwerfälligen Teilnehmern bestehende Gruppe, rief ihre energischen, vom rhythmischen Trillern ihrer Pfeife unterbrochenen Anweisungen in die angeschlagene Runde, die träge unter den Tannen galoppierte. Zur Unterstützung ihrer Befehle ruderte sie heftig mit den Armen.
Konrad, dem Ausgang vorerst untersagt war, stand am Fenster und sah gelangweilt hinunter, im Rücken das Tacken des Metronoms. Vier Wochen zuvor hatte man ihn aus Asbach nach Heppenheim verlegt. In seinem Gehirn hatten sich beängstigende Dinge abgespielt, fremde Mächte hatten die Kontrolle darüber gewonnen und ihm den Zugriff verweigert. Je länger er versucht hatte, die Hoheit über sich zurückzugewinnen und die Angreifer, deren Zahl scheinbar stündlich zunahm, zu täuschen oder zu ignorieren, desto diffuser war alles geworden. Bis er anfing, sich selbst nicht mehr über den Weg zu trauen, splitternackt durch den Garten lief, ruhelos den kleinen, von Seerosen überzogenen Teich umrundete und sich nur unter Aufbietung
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