Die Ängstlichen - Roman
Ulrike sehe auf ihn und das, was er getan hatte, verächtlich herab. Letztlich aber tröstete er sich mit der Vorstellung, dass Ulrikes Leben durch ihn die alles entscheidende Wendung zum Besseren erfahren hatte. Ohne ihn, daran bestand für Rainer nicht der geringste Zweifel, wäre es ihr niemals gelungen, sich aus Johannas lähmendem Kraftfeld zu befreien. In Rainers Augen war seine Schwiegermutter eine unersättliche Tyrannin, die es blendend verstand, ihre Selbstsucht als Altruismus (für Rainer die gefräßigste Form von Egoismus) zu tarnen und andere für sich einzuspannen, indem sie geschickt mit deren Schuldgefühlen operierte und sie somit an sich band. Doch Rainer hatte Johanna, dessen rühmte er sich immer mal wieder Ulrike gegenüber, frühzeitig durchschaut. Denn mit Egoismus und dessen Folgen kannte er sich aus. Seine Mutter Lene hatte an ihm die Dialektik aus Selbstsucht und Unterdrückung bis zum Gehtnichtmehr durchexerziert. Bis er sich eines Tages von ihr lossagte, sie ohrfeigte und über Nacht und ohne über Jahre hinweg wieder ein Wort mit ihr zu sprechen das Haus in Leverkusen verließ.
Rainer nahm die Auffahrt zur A 7 Richtung Kassel undbeschleunigte den Wagen. Ulrikes Anblick und die Art, wie sie ihn angesehen hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Nach etwa zehn Kilometern verließ er die Autobahn und hielt an der Raststätte Ebersburg an. Ihr Solidarpakt hatte einen tiefen Riss bekommen.
Er musste Zeit gewinnen, Abstand bekommen. Ja, er musste sie milde stimmen und wieder auf seine Seite ziehen. Doch wie, um Himmels willen, konnte man einen Lavastrom stoppen?
J ahrelang hatten die Frauen ihn wie einen Aussätzigen gemieden. Und nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern sollte. Doch dann hatte eines Tages (offenbar hatten der Himmel, das Schicksal oder sonst wer endlich ein Einsehen mit seiner prekären Lage gehabt) die Bankangestellte Iris Münch vor ihm gestanden. Und vom ersten Augenblick an hatte Ben gespürt, dass es nicht bei dieser kurzen, einmaligen Begegnung bleiben würde; alles an ihr hatte ihm dies signalisiert. Als er seine Scheu schließlich überwand und sie bei einem der folgenden Besuche in der Bank um ein Treffen bat, willigte sie, ohne zu zögern, ein.
Anfangs trafen sie sich in Restaurants und Cafés. Bis sie ihm eines Tages vorschlug, in ihre Wohnung am Hafen zu gehen. Seither sahen sie sich regelmäßig, mal in seiner, mal in ihrer Wohnung. Und wie es schien, fand Iris Gefallen daran, Ben in seinem Verlangen nach Halt und Geborgenheit völlig zu entsprechen. Wer sie in der Bank ansah, blickte in die Augen einer verliebten Frau, um die herum es zu leuchten schien. Und wenn sie am frühen Abend nach Hause kam, zog sie ihr verwaschenes, einst hellblaues ADIDAS-Sweatshirt und ihre alten Jogginghosen an, die ihr viel zu groß waren, undstellte sich gut gelaunt an den Herd. Trotz ihres Aufzugs hätten sich viele Männer auch draußen auf der Straße nach ihr umgedreht, allein weil auf ihrer Stirn in riesigen unsichtbaren Lettern geschrieben stand: Ich bin verliebt!
Manchmal fragte sich Ben, wenn er, nachdem sie miteinander geschlafen und sich in entspannter Müdigkeit voneinander abgewandt hatten, auf seiner Seite ihres Bettes lag und ihren tiefen, gleichmäßigen Atemzügen lauschte, worin für sie der Gewinn und die Attraktivität bestanden, mit einem wie ihm zu verkehren. Was hatte er ihr denn schon zu bieten? Einer Frau, die die Umgangsformen des gesellschaftlichen Lebens perfekt beherrschte und ihn jedes Mal neu verblüffte, wenn sie ihn zu einer Abendgesellschaft mitnahm und ihm ihre Weltgewandtheit demonstrierte. Ein paarmal hatte er anschließend dumme, im Grunde nichtssagende Streitigkeiten vom Zaun gebrochen und sie angegriffen und provoziert, bloß um ihr zu zeigen, wie wenig wert er es war, von ihr ernst genommen und geliebt zu werden. Doch Iris sah stets großzügig und mit beschämender Freundlichkeit über seine Ausbrüche hinweg, so dass er zwar schlagartig begriff, wie töricht und aus der Luft gegriffen seine Anwürfe in Wahrheit waren, sich gleichzeitig aber noch wertloser vorkam.
Ben genoss die Souveränität dieser umsichtigen, gefühlsbetonten Frau, die es verstand, ihm für die Dauer ihres Zusammenseins Teile jener einstigen jugendlichen Leichtigkeit zurückzugeben, die er auf der Wegstrecke der letzten Jahre liegengelassen hatte. Und manchmal, wenn er mit den Händen ihre kugelrunden, schön geformten
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