Die Ängstlichen - Roman
sollen?«
»Keine Ahnung«, sagte Iris und schwieg eine Weile nachdenklich.
»Ich hätte alles für ihn getan und würde es auch heute noch tun.«
»Sicher meldet er sich bald wieder«, sagte Iris, die spürte, dass Ben ihren Zuspruch brauchte.
»Das hoffe ich«, sagte Ben, als sie vor dem Restaurant ankamen. Er lenkte den Wagen auf den Parkplatz, schaltete den Motor ab, als sie zum Stehen kamen, und zog die Handbremse an. Dann wandte er sich Iris zu, die ihn aufmunternd ansah und ihm in Erwartung eines Kusses mit halb geschlossenen Lidern ihr Gesicht entgegenstreckte. Doch Ben hielt inne, denn plötzlich sah er Janeks helle Augen vor sich, die schreckhaft aufgerissen waren, seine gerade Nase über dem kräftigen Mund und sein schmales, von Natur aus ernstes Gesicht, das beim Lachen in tausend Fältchen zersprang und ihn jetzt anstarrte, als habe er den Teufel gesehen.
J ohanna drückte ihre Nase gegen die sacht vibrierende Busfensterscheibe und ließ die kurz aus der Dunkelheit hervortretenden und sogleich wieder darin versinkenden, hell erleuchteten Schaufenster der Geschäfte an sich vorübergleiten.
Wie dichter, alles überziehender Ascheregen war die Schwärze über der Stadt niedergegangen und verhüllte das ganze Ausmaß der Verwüstungen, die das Unwetter angerichtet hatte, wieder für ein paar Stunden.
Was hätte sie in diesen Sekunden darum gegeben, statt auf ihrem Platz im Omnibus Richtung Kesselstadt in einem Schnellzug mit Fahrtrichtung Palermo oder Barcelona zu sitzen, der sie südlichen Stränden und einem Leben unter einer immer wärmenden Sonne entgegentrug, die ihr die Kälte aus den Knochen brannte. Die Vorstellung, in ihre dunkle, für sie allein viel zu große Wohnung zurückzukommen, in der sie keine Menschenseele erwartete, ließ sie schaudern. Nein, Johanna war nicht wohl in ihrer Haut. Seit drei Tagen hatte sie nicht das Geringste von Janek gehört, und die sich in ihrer Blase tummelnden Bakterien raubten ihr den Nachtschlaf. Dazu der Streit, den sie am Mittag mit Ida Todenhöfer wegen der zu spät auf die Straße gestellten Mülltonnen gehabt hatte.
Das Ganze lag ihr jetzt noch im Magen, wo das Stück Sahnekirschtorte, das sie viel zu hastig gegessen hatte, in einen konsistenten, unverdaulichen Klumpen verwandelt worden war. Und zu allem Überfluss hatte sie Franz, den Mann ihrer ehemaligen und kürzlich verstorbenen Klassenkameradin Gerti Benedikt, entsetzt – hinter die Bronzestatue des expressionistischen Hanauer Malers Reinhold Ewald zurückgezogen – dabei beobachtet, wie er, einen Foxterrier an seiner Seite, mit einem McDonald’s-Kaffeebecher in der Hand die Leute um Geld anbettelte. Der Anblick des bärtigen, verwahrlostenMannes war ihr spontan auf den Magen geschlagen und noch lange nachgegangen und hatte ihre Sorge um Janek weiter verstärkt. Und auch die zwei Stunden im Kreis ihrer Schulkameradinnen im »Café Schien« hatten sie nicht wirklich abzulenken vermocht von ihren Gedanken, die immerzu um Janeks Verschwinden kreisten (und anfangs auch noch um Franz Benedikt).
Die meiste Zeit war Johanna unkonzentriert und abwesend gewesen und hatte deswegen mehrere Male vorschnell die falschen Karten gelegt, wofür sie prompt dumme Kommentare der anderen Mitspielerinnen geerntet hatte. Am Ende war sie, ohne sich von ihnen zu verabschieden, mit wehenden Mantelschößen in den Abend hinausgelaufen. Doch schon nach nicht einmal hundert Metern war sie atemlos stehen geblieben und hatte, gegen eine scharfkantig verputzte Hauswand gelehnt, angefangen zu weinen.
Minutenlang war es aus ihr herausgebrochen, doch ihr Kummer war dadurch nicht kleiner geworden. Und plötzlich hatte sie eine Hand auf ihrer Schulter gespürt und sich entgeistert umgedreht. Vor ihr stand ein mit einem dunklen Mantel bekleideter Schwarzer, der sie freundlich ansah und fragte: »Kann ich Ihnen helfen, meine Dame?«
Hastig hatte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln gewischt und, von so viel unerwartetem Mitgefühl überrascht, kurzatmig geantwortet: »Nein danke, es geht schon wieder, ja wirklich, vielen Dank, sehr nett von Ihnen!« Daraufhin hatte sich der Schwarze kurz und gemessen vor ihr verneigt und war weitergegangen.
Johanna hatte ein paarmal in ihr Taschentusch geschnäuzt und schwer geschluckt. Dann war sie langsam hinüber zum Freiheitsplatz gegangen, wo der Zehner-Bus bereits abfahrbereit stand. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, derFremde könne ihr seine Hand hinstrecken und sie
Weitere Kostenlose Bücher