Die Ängstlichen - Roman
zu einer körperlichen Geste des Dankes verleiten. Doch dazu war es nicht gekommen. Nun aber spürte sie, wie wohl ihr die Anteilnahme des Mannes in Wahrheit getan hatte. In seiner kehligen Stimme hatte ein französischer Akzent mitgeschwungen, warm und vertraueneinflößend.
Das erste Mal hatte sie wenige Tage nach Kriegsende einem Schwarzen die Hand gegeben, einem amerikanischen Soldaten namens Cory Gibbs. Der schlanke, hochgewachsene Südstaatler aus Louisiana hatte ihnen bei der Instandsetzung ihres von Artilleriebeschuss teilweise beschädigten Hauses auf der Hohen Tanne geholfen. Eines Morgens hatte er vor ihr gestanden, ihr entschlossen die Hand gegeben und mit Blick auf die zerstörte Nordseite des Hauses in ausgezeichnetem Hochdeutsch gesagt: »Alles halb so wild, Madam! Das wird schon wieder, glauben Sie mir!«
Hinterher hatte Johanna verstohlen ihre Handfläche begutachtet und zugesehen, wie der Schwarze im Inneren des Hauses verschwand. Daran musste sie jetzt wieder denken, während der Bus durch die Fahrstraße glitt. An das helle Rosa seiner Handflächen und an die blitzend weißen Zähne, die sie immerzu anstarren musste, während er sprach.
Gibbs war einfach da gewesen, damals, ohne dass sie oder sonst wer hätte sagen können, woher und in wessen Auftrag er gekommen war, um zu helfen. Und genauso plötzlich und überraschend war er, nachdem die größten Schäden an der Außenmauer behoben waren, wieder verschwunden. Eine Art Engel auf Kurzbesuch bei denen, die es getroffen hatte.
Auf dem Marktplatz stand ein einsames städtisches Kehrfahrzeug, dessen blinkendes, auf dem Dach des kleinen Führerhauses angebrachtes Licht orangefarbene Strahlenbündel in die Dunkelheit warf. Die Stadt wirkte ausgestorben. Bis aufjenen Schwarzen, der ihr eben auf so schöne, unaufdringliche Weise beigestanden hatte, war niemand zu sehen.
Hätte Johanna ein Handy besessen, so hätte sie wohl jetzt davon Gebrauch gemacht und Bens Nummer gewählt. Ben hatte ein paarmal erfolglos versucht, sie von den Vorzügen eines Mobiltelefons zu überzeugen.
»Damit bist du immer erreichbar!«, hatte er gesagt und sie dabei angesehen wie ein Verkäufer in diesen schrecklichen Elektronikläden, in denen es immerzu piepste und man sich zwischen turmhohen Wänden aufeinandergestellter TV-Bildschirme verlief. »Und wenn mal was mit dir ist, ziehst du das Ding einfach aus deiner Kittelschürze und rufst mich an. Denk nur an deine Cousine Marianne, die tagelang mit gebrochener Hüfte in ihrer Pariser Wohnung auf dem Fußboden lag und nicht imstande war, Hilfe zu holen. Hätte sie ein Handy gehabt, hätte sie die Polizei oder die Feuerwehr alarmieren können!«
Wozu braucht jemand wie ich ein Handy?, dachte Johanna. Ich bin alt, ein Handy ist nichts mehr für mich! Wenn es mich erwischt, kann mir auch ein Handy nicht helfen.
Wie selbstverständlich gingen ihr solche Sätze für gewöhnlich über die Lippen. Doch wer sie besser kannte, wusste, dass sie derlei nur in die Welt setzte, damit man ihr, im besten Falle empört, widersprach. Doch jetzt, in diesen Minuten im Bus an ihrem Fensterplatz, fühlte sie wieder, wie das Alter sie zersetzte wie Fäulnis den Stamm einer alten Kastanie. Ja, jetzt wäre sie froh gewesen, Bens Stimme zu hören und ihre dunklen Gedanken für eine Weile zu verscheuchen.
Genau solche Momente waren es, die sie in ihrem Vorhaben bestärkten, sich aus dem öffentlichen Leben in eines hinter Stiftsmauern zu verabschieden. Wem half es schon, wenn sie länger als nötig auf ihrem Posten in der Ankergasse durchhielt?Keiner Menschenseele. Am allerwenigsten ihr selbst! Und für den Fall der Fälle hatte sie vorgesorgt: Konrad würden die 45 000 Euro, die sie angespart hatte, zufallen, treuhänderisch verwaltet von Ulrike und Rainer natürlich, denen Johanna das Versprechen abgenommen hatte, im Falle ihres Ablebens für Konrad zu sorgen. Dafür hatte sie im Gegenzug (blauäugig, wie sie nun einmal war – nicht mal Janek wusste davon) das Geld bereits vorab auf eines von Ulrikes Konten überwiesen. (Ein kapitaler Fehler.)
Konrad war, abgesehen von Janek, zweifellos ihr größtes Problem: ein schizophrener, übergewichtiger Kettenraucher, der, wenn er seinen Rappel bekam, zu den hinterhältigsten Dingen fähig war. Mehr als einmal hatte die Polizei ihn nach geglückten Ausbrüchen aus der geschlossenen Abteilung in dreckigen Kleidern, Hausschuhen und manchmal sogar barfuß auf irgendwelchen Autobahnraststätten
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