Die Ängstlichen - Roman
von denen du keine Ahnung hast!«
Johanna blieb die Luft weg: »Keine Ahnung?«, rief sie mit erstickter Stimme. »Keine Ahnung? Also das ist ja wohl die Höhe! Wer hat dir denn zu Rainer geraten, wer? Das war ich, oder hast du das bereits vergessen? Wer wollte denn seinerzeit partout einen spanischen Autoschieber heiraten? Mir allein hast du es überhaupt zu verdanken, dass du nicht wegen Schmuggelei in irgendeinem afrikanischen Gefängnis sitzt!Also wirklich! Ich bin es gewesen, die dich von Rainers Vorzügen überzeugt hat, ich allein! Und nun so etwas, du bist wirklich ein undankbares Geschöpf! Also das ist doch …«
»Mutter!«, unterbrach Ulrike Johannas Redeschwall, »Mutter, nun halt mal die Luft an, ja! Rainer ist immer noch
mein
Mann, verstanden! Und ich bin nicht länger bereit, mir solche Redensarten von dir anzuhören! Du bist ja nicht ganz bei Trost!«, und legte auf.
Verdutzt hielt Johanna den Telefonhörer ans Ohr gedrückt. Auf ihrer Brust lastete plötzlich ein unangenehmer Druck, und ihre Arme wurden so schwer, als habe sich das Blut darin verdickt.
Johanna konnte sich nicht erinnern, wann jemand das letzte Mal auf eine solch schamlose Weise mit ihr gesprochen hatte. Von einer plötzlichen unerklärlichen Müdigkeit befallen, ließ sie den Hörer auf die Gabel sinken und dachte: Was ist bloß in meine Tochter gefahren? Ulrike muss verrückt geworden sein!
Mit letzter Kraft wankte sie in die Küche, fiel auf einen Stuhl und schlug wimmernd die Hände vor das Gesicht. Die Welt war grausam und ungerecht zu ihr, o ja, ein Ort des Schreckens und des Nächstenhasses, bevölkert von einem Haufen Gestörter. Daran war, davon war Johanna felsenfest überzeugt, hauptsächlich das Fernsehen schuld. In ihren Augen säte das Fernsehen Missgunst und Verdruss. Wie oft hatte sie sich selbst, nachdem sie auf Janeks Drängen hin irgendwelche amerikanischen Serien angeschaut hatte, schlecht gelaunt und zerschlagen gefühlt. Und dann diese schrecklichen Sendungen, die schon nachmittags auf allen Kanälen liefen und den Zuschauern suggerierten, bereits ein halbstündiger Besuch in einem Fernsehstudio löse ihre Probleme. Nie im Traum käme sie auf die Idee, sich vor einem Millionenpublikum derart ungeniert zu offenbaren.
Was, in Gottes Namen, dachte Johanna, trieb Leute dazu,sich in aller Öffentlichkeit auf solch entwürdigende Weise zu zeigen? Waren denn aller Anstand und alle Diskretion auf der Strecke geblieben? Mehr als einmal hatte sie Janek gebeten, den im Wohnzimmer stehenden Fernseher nicht öfter als nötig einzuschalten und, wenn überhaupt, sich auf ausgewählte Sendungen zu beschränken. (Johanna favorisierte Lustspiele, Quiz- und Volksmusiksendungen, Janek amerikanische Krimiserien und Nachrichtensendungen.) Denn meist zeigte er sich, nachdem er zuvor stundenlang rauchend vor dem Fernseher gesessen hatte, reizbar und streitsüchtig, und statt der erhofften Heiterkeit schwangen Groll und Aggressivität in jedem seiner Sätze mit.
Zu ihrer Zeit, dachte Johanna, besaß so etwas wie Intimität noch einen Wert. Inzwischen aber gab jede Fünfzehnjährige hemmungslos ihre himmelschreiende Vergewaltigungsgeschichte vor laufender Kamera zum Besten. Sicher sah auch Ulrike zu viel fern. Woher sonst rührte ihre Respektlosigkeit? Womöglich, dachte Johanna, zwingt Rainer Ulrike, sich gemeinsam diese unappetitlichen Filme anzusehen. Oder er verlangt im Bett bestimmte Sachen von ihr. (Das Wort »Pornographie« wagte sie nicht einmal zu denken.)
Weshalb sonst war Ulrike derart verstört? Irgendetwas musste vorgefallen sein. Verschwieg sie ihr womöglich Probleme, mit denen sie nicht fertig wurde? Dabei war ihr gerade Ulrike trotz aller Schwächen, die sie zweifellos besaß, stets als besonders robust und durchsetzungsfähig erschienen, eine Frau, die sozusagen ihren Mann stand und ohne die Rainers beruflicher Aufstieg ihr rückblickend undenkbar schien.
Sicher, Rainer war ein tadelloser Schwiegersohn, großzügig und in den entscheidenden Momenten solidarisch mit ihr. Doch vor allem konnte er von Glück sagen, eine Frau wie Ulrike gefunden zu haben, die ihm zur Seite stand, die ihn starkmachte und, ja, seine Kleinkariertheit und sein Spießertum (so, nun hatte sie es also gedacht) mit Weltoffenheit kaschierte. Denn darin war Ulrike immer besonders gut gewesen, im Starkreden anderer und darin, an das Positive zu glauben, auch wenn um sie herum alles in Trümmern lag.
Johanna hatte ihre Tochter stets dafür
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