Die Ängstlichen - Roman
befreit von aller Erdenschwere, hingespült hatte und an dem ihn bärtige, freundlich lächelnde und mit langen weißen Gewändern bekleidete alte Männer in Empfang nahmen. (Irgendwann hatte er gemeinsam mit Ben spätabends den Science-Fiction-Film »SoylentGreen« mit Charlton Heston in der Hauptrolle im Fernsehen angeguckt und sich seinen eigenen Tod seither so oder so ähnlich, wie darin gezeigt, vorgestellt.)
Nein, das hier ist nicht der Tod, dachte er, von entsetzlichen Schmerzen im Bein gepackt, sondern etwas anderes. Ein Ort der Verdammnis, die Hölle, irgend so etwas. Ein Zustand, der jede Art von Leiden, die Konrad bisher erlebt hatte, überstieg. Die widerspenstigen dornigen Äste, an denen er sich beim Sturz das Gesicht zerkratzt hatte, bohrten sich ihm nun in die Seite, und in seinem linken Schienbein registrierte er ein so heftiges Klopfen und Stechen, dass er glaubte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Wenn er versuchte, den Kopf zu heben, war es, als hielten ihn unsichtbare Hände auf den Boden gedrückt.
Reglos und vom Schmerz in seinem Bein, im Rücken und an den Schultern betäubt, schielte er mit brennendem, blutverschmiertem Gesicht zwischen den Ästen hindurch in die Schwärze. Dabei dachte er beinahe verwundert: Wenn nicht alles täuscht, sind die unscharfen hellen Punkte da oben Sterne.
Nein, er war nicht tot. Nicht einmal bewusstlos. Er hatte den Sprung aus vier Metern Höhe in die Freiheit überlebt! (Im selben Moment schwirrten ihm Bilder und Eindrücke früherer Fluchten durch das Bewusstsein, doch kein Eindruck oder Bild hatte ihm eine ähnliche Befriedigung verschafft.)
Nach langen, zähen Minuten reglosen Daliegens gelang es ihm unter größter Mühe, sich aufzurichten. Er streifte das Bettlaken und die Handschuhe ab und wischte sich den Schweiß und das Blut aus dem Gesicht. Doch bei jeder unüberlegten Bewegung schoss der Schmerz in seinen linken Fuß, und er schrie jäh auf.
Erst jetzt schmeckte er das Blut im Mund, warm und metallisch. Anscheinend hatte er sich beim Aufprall auf die Zungegebissen. Angewidert spuckte er ein paarmal aus, damit der Geschmack verschwand.
Als Konrad eine Stunde später im Waschraum der Raststätte Lorsch-Ost, mit schmerzverzerrtem Gesicht über das Waschbecken gebeugt in den verschmierten Spiegel blickte, sah er das getrocknete Blut auf seinen Kleidern und am Kinn. Mit letzter Kraft wischte er sich die dunkle Kruste von den Bartstoppeln, wusch, so gut es ging, die Flecken mit Seife und Wasser aus und schob das Gesicht, auf das unverletzte Bein gestützt, unter den aufgedrehten Hahn. Das eiskalte Wasser sprang ihm in den Mund und rann ihm über die zitternden Lippen. Heißhungrig schnappte er wieder und wieder danach.
Ein LKW, den er am Ortsausgang von Heppenheim angehalten hatte, hatte ihn bis zur Raststätte mitgenommen. Während der Fahrt hatten er und der Fahrer, dessen fahles, unrasiertes Gesicht von den aufflammenden Scheinwerfern der entgegenkommenden Fahrzeuge manchmal sekundenlang aus dem Dunkel gerissen wurde, sogleich aber wieder darin verschwand, kaum ein Wort gewechselt. Das Radio lief leise, und Konrad schielte manchmal verstohlen hinüber zu seinem Nachbarn, dessen Züge vom gelblichen Widerschein des Tachometers schwach beleuchtet wurden.
Die meiste Zeit starrte er, von Schmerzen gequält, hinaus in die Nacht, in der nur da und dort noch Lichter in den Häusern brannten. Dunkle, diffus als Felder oder Wiesen zu erahnende Flächen gerieten kurz in den Kegel des rechten Scheinwerfers, schienen auf und blieben zurück. Manchmal glomm in der Ferne der Schweif einer blau oder rot leuchtenden Neonreklame auf und erlosch ebenso schnell.
Als sie die Raststätte erreicht hatten und mit dem Öffnen seiner Tür das Licht in der Führerkabine angegangen war,hatte der andere ihn sekundenlang angestarrt, aber kein Wort gesagt. Da hatte Konrad sich ebenfalls schweigend abgewandt und war mit zusammengebissenen Zähnen in die Nacht hinaus entschwunden, hinüber zu den Waschräumen, um deren hell strahlende Außenlampen riesige schwarze Nachtfalter kreisten.
Nachdem er sich flüchtig gewaschen, seine Kleider gesäubert, die beschädigte Brille wieder aufgesetzt und das fettige, in Strähnen herabhängende Haar mit dem befeuchteten Messingkamm nach hinten frisiert hatte, schob er das auf dem Beckenrand liegende Portemonnaie in seine Gesäßtasche und verließ humpelnd den Waschraum. Dröhnend flog ein Jet über ihn hinweg. Auf das unverletzte
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