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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ihr verzwicktes Gefühlsleben einzuweihen. Das machte sie für Ulrike auf gewisseWeise unentbehrlich (trotz ihrer manchmal geradezu peinigenden Einfalt). Sie brauchte sie, nicht zuletzt, weil sie sich in Brittas Gegenwart für etwas Besseres halten konnte und sich in ihren festen moralischen Grundsätzen regelmäßig von ihr bewundert sah. Zugleich aber erschien ihr Britta geradezu kurios mit ihren neuerdings silbern gefärbten Haaren – in Ulrikes Augen ein klarer Fall von Geschmacksverirrung. Nein: Brittas scheinbare Unabhängigkeit war nichts anderes als Beschränktheit und ihr Hang zur Bizarrerie primitiv. Doch da war noch etwas anderes, das ihr an Britta in letzter Zeit missfiel, nämlich dass sie, wenn sie sie ansah, in einen Spiegel blickte, der ihr etwas zeigte, das sie so nicht sehen wollte. Denn genau genommen tat Britta nichts anderes als sie selbst auch: Sie stemmte sich mit allem, was ihr zur Verfügung stand, dagegen, alt zu werden oder, schlimmer, so zu erscheinen. Sie tat es auf denkbar durchsichtige Weise, doch sie tat es aufrichtig und ohne falsche Tricks, indem sie ausschließlich zu jenen mehr oder weniger sanktionierten Hilfsmitteln griff, die ihr die Kosmetikindustrie für solche Zwecke anbot: Haartönungen, Anti-Aging-Cremes und höchst selten jene zum Teil sündhaft teuren Salben und Wässerchen, die bei Ulrike von jeher zur Grundausstattung gehörten.
    Ulrike ihrerseits führte den Kampf gegen das Alter inzwischen mit aller Dezenz und wie im Geheimen. Nach außen gab sie sich betont natürlich, getreu dem Motto: an meine Haut lasse ich nur Wasser und CD. (Niemand außer Rainer wusste, welch operative Hilfsmittel sie bereits angewendet hatte, um die Niederlage gegen das Älterwerden möglichst lange hinauszuzögern.) In Wahrheit aber litt sie unter jedem neuen Fältchen wie andere unter Bandscheibenvorfällen. (Und sie wäre zweifellos dazu bereit gewesen, finanziell bis an die Schmerzgrenze zu gehen, um sich abermals geschicktenOperateurshänden anzuvertrauen.) Denn sie verstand in derlei Fragen kein Pardon: Was das Alter anrichten konnte, sah sie bei Johanna: Wer ihre Mutter bezichtigte, Altersangst zu haben, den setzte sie auf den Index. Und wer ihr das Gefühl gab, alt zu sein, zu dem brach sie auf der Stelle jeden Kontakt ab.
    Dass Britta bisweilen plump in ihren Versuchen wirkte, die Natur zu überlisten, machte es Ulrike, oberflächlich betrachtet, leicht, sie zu belächeln. Dass sie aber, im Gegensatz zu ihr selbst, ungeniert zu ihrem Verhalten stand und sie damit indirekt beschämte, machte sie nur umso verurteilenswerter.
    »Ich muss los!«, sagte Britta, raffte hastig ihre Sachen zusammen. »Immer eilig, eilig. Aber du weißt ja, wie ungeduldig mein Klaus ist. Außerdem ist er nach der Fußpflege jedes Mal total geschafft. Möchte mal wissen, was die Hollerbach mit ihm anstellt?«
    »Na, was wohl?«, äffte Ulrike, rollte vielsagend die Augen und ließ gequält lächelnd die entsprechende unzweideutige Handbewegung folgen.
    »Ja, ja«, erwiderte Britta und grinste scheinheilig, »mach dich nur lustig. Ich ruf dich an.«
    »Ja, tschau!«, rief Ulrike ihr halblaut hinterher und spürte noch im selben Moment, da Britta das Café verließ, wie etwas in ihr gefährlich auseinanderzudriften begann, so als zerbreche sie jeden Moment exakt in der Mitte in zwei gleich große Hälften.
    Zunächst versuchte sie, indem sie mit dem Finger nach den Kuchenkrümeln auf ihrem Teller pickte, sich abzulenken und die Unruhe, die in ihr aufstieg, zu ignorieren. Doch das Gefühl wurde immer stärker, kam wie ein sich unaufhaltsam nähernder Schnellzug auf sie zu, verwandelte sich in Angst. Und weil sie nicht wusste, was sie dagegen tun sollte, gab sie derBedienung ein Zeichen und bestellte ein weiteres Stück Schwarzwälderkirschtorte. Anschließend starrte sie mit zu Fäusten geballten, in ihrem Schoß liegenden Händen das vor ihr auf dem Tisch stehende Kuchenstück eine ganze Weile zunächst verbissen und schließlich nur noch verächtlich an. Bis sie irgendwann die Kuchengabel in die Hand nahm und damit so jäh und unkontrolliert auf die Torte einhieb, dass die Brocken in hohem Bogen über den Tisch flogen und auf den Boden fielen. Doch statt innezuhalten, als die Bedienung, die das absurde Spektakel bemerkt hatte, herbeilief und sie bestürzt aufforderte, augenblicklich damit aufzuhören, machte sie so lange weiter, bis die andere sich auf sie stürzte und ihren ausgestreckten Arm derart fest

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