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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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warte auf mich!«, sagte er und legte auf.
    Johanna schloss die Augen. Was hätte sie in diesen Sekunden dafür gegeben, sie nie mehr aufmachen zu müssen, damit sie nicht länger aufzeichneten und in ihr Gehirn übertrugen, was so unendlich schmerzhaft für sie war. Doch der Lebensfilm lief weiter, ob man das wollte oder nicht, immer weiter, produzierte unablässig neue, schreckliche Bilder und Visionen.
    Wenn sie Krallen gehabt hätte in diesen Minuten, sie hätte sie ausgefahren und dem Erstbesten durchs Gesicht gezogen. Und wenn es Stachel gewesen wären, hätte sie sie der Welt kämpferisch entgegengereckt. Wäre sie ein Fisch gewesen, ein Rotbarsch, eine Sardine oder ein Schellfisch, so wäre sie auf derStelle hinabgetaucht auf den finsteren Meeresgrund und nie wieder an die Oberfläche zurückgekehrt. Und wäre sie ein Vogel gewesen, ein Kranich oder Graureiher, so wäre sie aufgestiegen, immer höher, immer weiter hinauf, die Flügel eng an den schlanken Körper geschmiegt und den Schnabel wie eine Dolchklinge entschlossen den eisigen Höhen entgegengereckt. Eine gefiederte Rakete, die so lange aufsteigt, bis sie die Atmosphäre durchstoßen und die Erde glücklich hinter sich gelassen hat.
    Johanna schlug die Augen auf, lief mit einem zerknüllten Taschentuch in der zur Faust geballten rechten Hand ans Küchenfenster und blickte zum Himmel. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, und an ihren Armen schienen kleine Gewichte zu hängen.
    Ein Schwarm Vögel glitt vorüber, Hunderte Exemplare, zusammengeschlossen zu einer scheinbar festgefügten Formation. Sekündlich wurden es mehr, und der Himmel färbte sich schwarz.
     
    K önnen Sie etwas entdecken?«, fragte Helmut ungeduldig. Er lag mit gespreizten, hochgelagerten Beinen im Behandlungsstuhl des Untersuchungszimmers Nummer 4 in Dr. Benders urologischer Praxis. Der Mediziner starrte konzentriert auf den neben sich postierten Schwarzweißmonitor, während er das soeben in Helmuts Harnröhre eingeführte Zystoskop vorsichtig zu justieren versuchte, um in den vollen optischen Genuss des 360-Grad-Rundumblicks zu kommen.
    »Ich versuche mir immer noch ein Bild zu machen, wenn Sie erlauben«, entgegnete Bender leicht pikiert, tippte an seine Brille und starrte weiter auf den Monitor. »Und halten Sie bitte still!«
    Helmut kam sich lächerlich vor, wie er so dalag (wie eine Zwölfjährige beim ersten Besuch beim Gynäkologen), entmündigt und schutzlos den Blicken der Assistentin ausgeliefert (die er unter anderen Umständen gern ein bisschen näher an sich herangelassen hätte). Jetzt registrierte er ein gedämpftes Zwicken in seiner Harnblase, weil Doktor Bender das an diverse Kabel angeschlossene und mit dem Bildschirm verbundene Zystoskop bewegte.
    »Aua«, rief er, »autsch!«
    Im Verlauf der Vorbereitungen für den Eingriff hatte Helmut befürchtet, er könne, während die Assistentin ihn behutsam wusch und freundlich lächelnd desinfizierte, eine Erektion bekommen, und hatte krampfhaft versucht, an etwas Ekliges zu denken, damit dies unter keinen Umständen geschah. Er stellte sich Maden vor, die aus einem zerfließenden, übelriechenden Camembert hervorkrochen. Anschließend, und das ließ seinen Eros tatsächlich wie eine in ein Wasserglas gefallene Kippe augenblicklich verlöschen, dachte er an Margit, die gegenüber One-Night-Stands alles andere als abgeneigte Besitzerin des »Spundlochs«, die manchmal so stark nach Schweiß und Knoblauch stank, dass es einem den Magen umdrehte.
    Helmut hatte sich nie größere Gedanken über sein Inneres gemacht. Sein Körper hatte stets gut funktioniert und sich als ausdauernd und höchst widerstandsfähig erwiesen. Allein das zählte. Doch nun begann ihm zu dämmern, dass er nicht nur aus Zellen, Muskeln, Sehnen und weißen und roten Blutkörperchen bestand, sondern das Produkt millionenfach gleichzeitig ablaufender, denkbar präzise aufeinander abgestimmter Prozesse war, die auf Störungen höchst allergisch reagierten.
    »Glauben Sie eigentlich an die Einheit von Körper und Seele?«, sagte Helmut, um irgendetwas zu sagen.
    »Seele?«, erwiderte der Urologe amüsiert, ohne seinen Blick von dem Monitor zu lösen. »Ich habe in meinem Leben sicher an die zweitausend Leute aufgeschnitten, aber eine Seele ist mir dabei noch nicht begegnet.«
    »Aha, ach so«, sagte Helmut und registrierte erleichtert, wie Doktor Bender das Zystoskop aus seiner Harnröhre herauszog, es flüchtig mit einem Tuch abwischte und neben

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