Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
Mein Freitod ist der einzige Ausweg. Ich habe keine Kraft mehr, mich dagegen zu wehren, und habe den Glauben an das Leben verloren. Mit der Bitte, Frau Johanna Jansen, wohnhaft Ankergasse 10 in Hanau, von meinem Ableben zu verständigen, scheide ich aus dem Leben.
    Viktor Knapik.
    (Verzeih mir, Johanna!)
     
    »Ich verstehe das nicht!«, sagte Johanna und begann nun ungehemmt zu schluchzen. »Warum hat er das getan?«
    Nach einer Pause sagte der eine Beamte: »Wir bräuchten ein Foto des Vermissten, wenn Sie so nett wären.« Dabei legte er ihr tröstend die Hand auf die Schulter »Und, sobald Sie in der Lage dazu sind, eine möglichst genaue Beschreibung von Herrn Knapik. Das wäre sehr hilfreich für uns. Außerdem benötigen wir Haarproben, Hautpartikel oder Nagelstücke, um einen DNA-Abgleich des Blutes vorzunehmen.«
    Nachdem sie den Beamten unwillig das Foto, das seit Jahren über ihrem Bett an der Wand hing (sie hatte es hastig aus dem Rahmen entfernt) sowie Janeks Zahnbürste, sein Nageletui und einige seiner Handschuhe und Mützen überlassen hatte, waren sie gegangen. Doch bevor sie die Wohnung verließen, hatte Markowitz sich noch einmal umgedreht und gesagt: »Und wegen der genauen Beschreibung von Herrn Knapik kommen Sie bitte in den nächsten Tagen ins Präsidium! Guten Tag!«
    Johanna lief ins Wohnzimmer, schob die Gardine beiseite und nahm die kleine, gut gefüllte Plastikgießkanne vom Fensterbrett. Dann begann sie, ihre Alpen- und Usambaraveilchen zu gießen. Dass in den grünen Plastikuntersetzern das Wasser bereits bis zum Rand stand, schien sie nicht weiter zu stören.
    Mit ausdauernder Fürsorge widmete sie sich den Topfpflanzen, strich hier und da langsam mit dem Finger über einzelne Blätter. Dabei kam ihr der Augenarzttermin zur Kontrolle ihres grauen Stars in den Sinn, den sie am Vortag für den Nachmittag abgemacht hatte. Und dass ihr, kurz bevor es an der Tür geläutet hatte, beim Blick in den Kühlschrank aufgefallen war, dass Milch fehlte und Gurken natürlich, »Süße Gürkchen im Schlemmertopf«, die sie für ihr Leben gern aß.
    Mit der leeren Gießkanne in der Hand setzte sie sich in Janeks Sessel und umklammerte den Henkel wie jemand, der um den Diebstahl seiner Handtasche fürchtet. Dabei starrte sie auf die dunkle Mattscheibe des Fernsehers, so als müsse dort jeden Moment ein ihr vertrautes Gesicht erscheinen. Gedankenfetzen trieben durch ihr Bewusstsein, stiegen darin auf wie Blasen aus dem Maul eines am Grund eines Aquariums kauernden Barschs, wurden nebelhaft und verschwanden schließlich. Dann verlor sie das Bewusstsein, sackte zusammen und kippte mit der Gießkanne auf dem Schoß zur Seite.
    Als sie eine Viertelstunde später erwachte, schmerzte ihr Nacken.
    Die Gießkanne lag vor ihr auf dem Boden, und vom Fensterbrett rann das Wasser auf den Teppich. Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück.
    »O Gott!«, schrie sie, »o mein Gott, warum hat er das bloß getan!«
    Sie erhob sich aus dem Sessel und lief, immer noch leicht benommen, in die Diele, zum Telefon, nahm den Hörer ab, wählte Bens Nummer und murmelte das Vaterunser. (Zeitlebens hatte sich Johanna lieber auf ihren Verstand und die Kraft ihrer Hände verlassen, wenn es darum ging, jemand aus dem Dreck zu ziehen oder sonstige brenzlige Situationen zu meistern, statt auf Hilfe von oben zu warten. Doch bei einem solchen Schlag,das wusste sie, war mit der Kraft ihrer Hände nichts mehr auszurichten. Worauf es jetzt ankam, das war Trost. Zuspruch in jeder nur erdenklichen Form; wenn es sein musste, gerne auch von ganz oben, Hände und Arme, die einen stützten, Worte, die ein Licht in der Dunkelheit entzündeten und ihr einen Weg zeigten, der sie aus dieser Dunkelheit herausführte.)
    »Hallo?«, meldete Ben sich.
    »Janek hat sich das Leben genommen!«, entfuhr es Johanna schrill, kaum dass sie seine Stimme hörte. »Er ist tot!«
    »Wer ist denn da? Johanna? Bist du das?«, rief Ben, der zunächst nicht verstand. (Er hatte geschlafen und benommen zum Hörer gegriffen, weil er dachte, es sei Iris.)
    »Er ist tot, hörst du nicht? Ben! Janek hat sich umgebracht!«
    »Was?«, erwiderte Ben und war schlagartig wach. Gleichzeitig spürte er, wie sein Hals schwoll und sein Herz heftig zu klopfen begann.
    »Zwei Männer von der Polizei waren bei mir«, sagte Johanna und fing wieder an zu weinen. »Sie haben mir seinen Abschiedsbrief gezeigt.«
    »Oh, nein!«, rief Ben, der endlich begriff. »Ich bin gleich da! Warte,

Weitere Kostenlose Bücher