Die Ängstlichen - Roman
bei der versuchten Inbetriebnahme der Geräte als Dilettant erwiesen hatte und mit der Bedienungsanleitung in der Hand irgendwann entnervt kapituliert hatte. Alle anderen hatten sich gläubig – und ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend: Autos, Pornos, Sportnachrichten – in das weltumspannende Netz eingeloggt und waren Teil der letzten großen elektronischen Revolution geworden, mitgerissen vom mächtigen Strom in Daten und verschlüsselte Signale umgewandelter Gefühle und Gedanken. Sie vertrauten den Segnungen desWWW und bewegten sich darin mit der Flexibilität von Labormäusen, die es gewohnt waren, selbst sich täglich ändernde Laufwege mit stoischem Gleichmut neu zu orten und zurückzulegen.) Insbesondere Rainer und Iris (die einander das erste Mal auf Johannas Fest begegnen sollten) empfanden es als völlig normal, große Teile ihres Meinungs-, Ideen- und Gefühlsaustauschs per Telefon und Internet abzuwickeln. Stromausfall kam einer Art plötzlichem Liebesentzug gleich, und auftretende Macken oder Weigerungen des Rechners, gewisse Befehle auszuführen, wurden sowohl von Rainer als auch von Iris großmütig als Charakterfestigkeit der Menschenmaschine verbucht und toleriert. Doch so selbstsicher die Jansens (und jene, die mit ihnen verbunden waren) sogenannte Infocenter und Meeting-Points betraten und Einkaufszentren frequentierten und sich darin bewegten, so unklar verhielt es sich mit ihrer Angst: Helmut hatte zwar gelernt, den Mechanismen der Verdrängung zu gehorchen und auf Angst konsequent mit Unterdrückung zu reagieren, sah aber nun, wohin das ABC der Verdrängung ihn geführt hatte. Für Ben war Angst eine konstante Größe, die zum Leben dazuzugehören schien wie atmen oder schlafen (auch wenn er in Gesprächen manchmal großspurig anderes behauptete). Ulrike, die nimmermüde den Einklang von Geist zu Körper gepredigt hatte, musste jetzt erleben, welch erschreckendes Eigenleben ihre Seele in Wahrheit führte. Und Rainer, der der Angst lange wie einem lateinamerikanischen Ureinwohner gegenübergestanden hatte, dessen Sprache er nicht verstand, hatte von diesem eine Lektion erteilt bekommen, die so hart und universell verständlich war, dass selbst er sie begriff.
Ausschließlich Johanna, die inzwischen gemeinsam mit ihrem Enkel Ben am Tisch ihrer bereits dämmrig gewordenen Küche in der Ankergasse saß und auf das wiederkehrendeleise Klicken der Tasten seines Handys lauschte, hatte immer gewusst, wie groß und einschüchternd die Angst unter Umständen sein konnte. Sie wusste, dass sie zum Leben dazugehörte und ihren Gezeiten folgte wie Ebbe und Flut; sie wusste, zu welch gefräßigem Tier sie werden konnte, wenn man sie nicht frühzeitig in die Schranken wies. Doch weil sie über ein ausgeklügeltes, rund um die Uhr aktiviertes Frühwarnsystem verfügte (dessen markerschütterndes Schrillen, Läuten, Schallen und Scheppern freilich nur sie allein zu hören imstande war), verstand sie es zwar, aufkommenden Ängsten frühzeitig zu begegnen, lebte aber seit Jahrzehnten in einem ständigen inneren Lärmen. Ganz im Gegensatz zu Rainer, ihrem Schwiegersohn, der in diesen schicksalsschweren Minuten in sich zusammengesackt und mit hängenden Schultern in der Küche seines Fuldaer Dreifamilienhauses saß und entsetzt auf das vor ihm auf dem Tisch liegende Schriftstück starrte. (Schriftstück? Was seine ohnehin bereits auf den Nullpunkt gesunkene Laune innerhalb weniger Sekunden noch weiter in von ihm selbst nicht für möglich gehaltene emotionale Abgründe katapultiert hatte, war ein anonymes, auf billigem weißem Maschinenpapier verfasstes Schreiben, dessen ebenso knappe wie markerschütternde Botschaft lautete: WIR WISSEN, WAS DU VOR DREI JAHREN GETAN HAST. JETZT BIST DU DRAN!)
Rainer blickte sich verunsichert um und verbarg das Schreiben reflexartig hinter dem Rücken. Dies war eine offene Kriegserklärung an seine Person: Die Androhung seiner Vernichtung, zugestellt in einem frankierten, auf den ersten Blick völlig harmlosen Umschlag. Eine sich ankündigende Katastrophe unübersehbaren Ausmaßes, der größte anzunehmende Unfall!
Mit letzter Kraft schleppte er sich an den diversen Häufchen stinkender Schmutzwäsche im Flur vorbei, hinüber insFernsehzimmer, warf sich auf das rotblau geblümte Cordsofa, das in einem 90-Grad-Winkel zum Fernseher in der linken Raumecke stand und auf dem Ulrike gewöhnlich ihre Stickereien zu machen pflegte, und schloss die Augen. (Einmal hatten er und
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