Die Ängstlichen - Roman
wundern. So hatte er Carl noch nie reden gehört, so respektlos und frech. Offenbar war der Junge, seit er in Deutschlands Hochburg der Narren zu Hause war, endgültig dem Wahnsinn verfallen. Früher, daran musste Rainer plötzlich wehmütig denken, hatten die Kinder ihn RC genannt und dabei ehrfurchtsvoll zu ihm aufgesehen wie zu einer Siegessäule. (Ulrike, die ein Fan der Serie »Dallas« gewesen war und sich offenbar in Sue Ellen wiedererkannte, hatte irgendwann damit begonnen, Rainer RC zu nennen, was, ähnlich wie JR, in der Tat mannhafter klang als Rainer Claudius.)
»Sag mal, bei dir piept’s wohl?!«, rief Rainer und schob seine Hand in die Tiefen seiner Unterhose, um sich die bitzelnde Haut seines Hodensacks zu kratzen. »Was willst du, Carl? Dein Vater ist immer noch ein vielbeschäftigter Mannund kann seine Zeit nicht mit derlei dummem Gerede vertun!«
»Entschuldige, aber ich wollte Mami sagen, dass ich am Wochenende nach Hause komme«, schallte es nun gedämpfter herüber.
»Schön für sie, ich werde es ihr ausrichten«, sagte Rainer und bekam seinen rechten Hoden zu fassen. »Sonst noch was?« Er begann die lappige Haut zu traktieren.
»Ja«, antwortete Carl. »Ich kriege ein Stipendium!«
»So«, erwiderte Rainer und ließ den Sack los. »Von der Akademie für freches Reden, nehme ich an. Davon habt ihr da drüben in Köln ja mehr als genug!« Das Bitzeln an seinen Hoden ließ nach.
»Ach, komm schon!«, rief Carl, »Das war doch bloß ein Scherz vorhin, okay? Ich habe heute einen Brief des Innenministeriums gekriegt. Und wie es aussieht, glauben die an mich!«
»So? Meinst du?«, sagte Rainer boshaft, »Na wenigstens die!« Das Gespräch dauerte für seine Begriffe und unter den gegebenen Umständen ohnehin schon viel zu lange.
»Ja klar!«
»Glückwunsch!«, sagte Rainer gequält. »Ich werde es deiner Mutter erzählen. Also, man sieht sich!«
»Ja, okay, man sieht sich«, echote Carl hörbar enttäuscht und legte auf.
Rainer hatte einmal versucht, mit ihm und Robert über Mädchen zu sprechen, und es war eines der Gespräche gewesen, die nicht gut verliefen. Er hatte den Knoten seiner Krawatte gelockert, drei Flaschen Bier aus dem Keller geholt, sich mit den beiden auf die Terrasse gesetzt und sich jovial und locker gegeben und ihnen kleine Tipps zur Eroberung gegeben. Am Ende der kleinen Unterhaltung unter Männern, wie er das genannt hatte (eines in Wahrheit selbstzufriedenen, in blumigenWendungen gehaltenen Monologs über die aus seiner Sicht unüberbrückbaren Differenzen zwischen Mann und Frau und die Dominanz des Männlichen, für den er bloß verständnisloses Nicken geerntet hatte), hatte Robert ein Gesicht gemacht, als hätte Rainer ihm das Streichen seiner monatlichen Zuwendungen angedroht.
Rainer, der für ein paar Minuten verdrängt hatte, dass sich dunkle, unbekannte und allem Anschein nach zum Letzten entschlossene Kräfte anschickten, ihm an die Gurgel zu gehen, wandte sich ab. Eine Viertelstunde später stand er in ihrer mattschwarzen Poggenpohl-Küche, nippte an seinem Espresso und starrte erneut betreten auf den vor ihm auf der Arbeitsplatte liegenden Drohbrief. Er nahm das danebenliegende Kuvert in die Hand, hielt es, auf der Suche nach möglichen Hinweisen auf dessen anonymen Absender (oder waren es gar mehrere?), prüfend gegen das durch das Fenster gedämpft hereinfallende Licht, drehte es hin und her, klopfte dagegen, roch daran. Doch der säurefrei gebleichte Umschlag verriet nicht das Geringste über seine Herkunft, und das beschriebene Blatt Papier selbst, auf dem die wenigen Worte bei unscharfem Blick sekundenlang wirkten wie arglose Vogelspuren im Schnee, konnte von überall her stammen. Wenn er hinüber ins Wohnzimmer liefe und die oberste Schublade seines Sekretärs öffnete, würde er zweifellos einen dicken Stapel genau des gleichen Allerweltspapiers vorfinden, 80 Gramm schwer, holzfrei, DIN A4. Nein, in diese Richtung zu forschen brachte ihn nicht weiter. Blieb also nur das Geschriebene selbst: dreizehn Worte, ein Komma, ein Punkt und ein Ausrufezeichen, verbunden zu einer Mitteilung von der Länge einer x-beliebigen Zeitungsschlagzeile, die sich immer neu so furchterregend vor ihm aufbaute wie ein Monster, das im Begriff war, ihn jeden Moment mit Haut und Haaren zu verschlingen. Eine Art Godzilla aus Worten.
Rainer musste plötzlich an seinen ersten Wagen, einen kirschroten VW-Käfer 1302, denken, in dem Ulrike und er, jung und verliebt, wie sie
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