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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Kummer), vorwurfsvoll damit heraus: »Janek hat sich umgebracht, und du bist nicht zu erreichen! Ich habe dauernd versucht, dich anzurufen! Er ist tot, hörst du, tot, tot!«
    »Was?«, rief Iris und fügte sogleich hinzu, »oh, Ben, das tut mir so leid!« Sie hörte, wie er anfing zu schluchzen und kein Wort mehr herausbrachte.
    »Ben!«, rief sie, »Bitte, Ben!«
    Nach einer Pause sagte er mit erstickter Stimme: »Sie haben seinen Wagen gefunden. In Steinheim, voller Blut!«
    »Aber woher weißt du das?«, sagte Iris.
    Sie konnte hören, wie er das Handy kurz herunternahm und sich schnäuzte. Dann kehrte seine nasale Stimme zurück. »Die von der Polizei haben es meiner Großmutter gesagt. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er …«
    Hier brach seine Stimme erneut ab, und Iris hörte, wie er aufschluchzte. »Wenn du willst, können wir uns in einer halben Stunde sehen! Draußen im Hof der Bank, okay?«, sagte sie und presste, wie um ihm dadurch näher zu sein, den Hörer ans Ohr.
    Niemand konnte sie dort hören, wo sie sich befand. Iris saß, wie meistens um diese Tageszeit, umschlossen von vier Zentimeter dickem, schalldichtem Panzerglas, an ihrem Platz im Kassierraum 1 der Dresdner Bank Hanau. Die Klimaanlage surrte und blies ihr ihren kühlen Hauch in den Nacken. (Diese Kälte verursachte dauernd harte, schmerzende Brustwarzen.)
    »Ja«, stammelte Ben, ohne die Fassung zu finden. »Ja, ist gut.«
    Eine Viertelstunde später ließ er in der unterirdischen Parkgarage der Wohnanlage den Motor seines metallicblauen 96-er Ford Mondeo an (er hatte Johannas Wohnung in der Ankergasse eine Stunde zuvor verlassen und war wie betäubt eine Zeitlang ziellos durch Altkesselstadt gefahren, ehe er nach Hause steuerte), manövrierte ihn rückwärts aus der Einstellbox und glitt im Schritttempo bis zu dem unlackierten Buchenholzrolltor. Nachdem er seine Anwohnerkarte, ein helles rechteckiges Stück Hartplastik, in den Automatenschlitz geschoben hatte, ging das Tor auf, und mit einem Schwung tauchte er an die schmerzhaft helle Oberfläche.
    Vor seinem inneren Auge sah er Janeks schlohweiße, stetsleicht nach Nikotin und Körperfett riechenden Haare, in die er als Kind so viele Male glückselig sein Gesicht gedrückt hatte, wenn Janek ihn auf dem Schoß gehalten und er ihn, auf dessen Knien stehend, mit beiden Armen umschlungen hatte.
    Ben hätte in dieser Sekunde nicht einmal sagen können, was genau für ihn das Besondere an Janek war. Die unter kräftigen silbergrauen Brauen eng zusammenstehenden wasserblauen Augen, die auf Außenstehende manchmal den irritierenden Eindruck machen konnten, als blickten sie durch einen hindurch? Oder, dachte Ben, während er den Wagen durch Hanaus Straßen lenkte, an den grauen einförmigen Fassaden der Rosenau vorbei, war es doch eher die ruhige, gelassene Art, mit der er eine filterlose Zigarette (eine Reval oder Rothändle) in Brand setzte und daran zog und manchmal sekundenlang andächtig ins Leere starrte, als horche er auf die Botschaft aus einer anderen Welt oder auf das sich ihm einen Moment lang offenbarende Rätsel oder Mysterium seines Lebens?
    Bens Augen füllten sich erneut mit Tränen und verschleierten seinen Blick. Er wischte die Tränen weg. Und als Iris ihn kurz darauf, auf dem Parkplatz im Innenhof der Bank, im Arm hielt, ihn an sich drückte und seinen Kopf wie den eines Babys streichelte, das aus schlechten Träumen erwacht ist und versucht, mit Mamis Hilfe in die anfängliche Ruhe und Geborgenheit des Schlafs zurückzufinden, kam das Tier namens Angst in ihm langsam zur Ruhe.
    Solange Ben denken konnte, hatte er auf Schicksalsschläge mit Panik statt mit Trauer reagiert. Fiel er als Junge hin, fühlte er nicht Schmerz, sondern die Angst davor, ausgeschimpft zu werden für seine Ungeschicklichkeit. Und starb jemand, empfand er statt Bedauern über den entstandenen Verlust Furcht, selbst eines Tages sterben zu müssen.
    Er holte Atem, als müsste er auf der Stelle wieder hinaus indieses grausame, alles verschlingende Leben, um weiterzukämpfen für Dinge, die es nicht wert waren, und sich weiter zu fürchten vor solchen, die aus heiterem Himmel kamen und ihn ihre schreckliche Größe und Übermacht spüren ließen.
    Iris berührte sein feuchtes, vom Weinen gerötetes Gesicht. »Nein, nicht!«, sagte sie sanft, als sie seinen Drang spürte, sich aus ihrer Umarmung herauszuwinden, um davonzulaufen. »Nicht jetzt, Liebster, später.« Und Ben dachte: Gut, dann eben

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