Die äußerst seltsame Familie Battersby (German Edition)
blutrotem Schneematsch gebadet.
Nun hat unsere Daphne ja klugerweise den Eingang gemieden, was für uns heißt: Wir können zur Besenkammer zurückkehren.
Die schmale Tür der Kammer führte zu einem riesigen Saal aus Eis, der sich von Horizont zu Horizont auszudehnen schien und einer Schneehöhle mehr glich als einem aus Stein gebauten Saal. Nur das Glitzern der Nordlichter beleuchtete die schier unendliche Weite des Saals. Deren Licht drang matt durch die trüben Eiswände.
Über eisigen Boden schritt Daphne durch diesen Saal, bis sie die entfernteste Wand erreicht hatte. Dahinter aber lagen weitere höhlenartige Säle. Erst marschierte Daphne wild entschlossen los. Bei jedem Schritt bildeten sich unter ihren Füßen dampfende Pfützen, so heiß waren ihre von den Engeln erwärmten Füße. Bald jedoch schwand Daphnes anfänglicher Elan, und sie verlor die Hoffnung. Gegen etwas Greifbares zu kämpfen, war in Ordnung. Aber wie sollte sie gegen etwas kämpfen, das nicht da war? Wie sollte sie sich gegen die Leere selbst stellen?
Im Rückblick mag es dumm erscheinen. Dennoch sollten wir der Schneekönigin keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sämtliche ihrer Wachen am Eingang zusammengezogen hatte. Es gab schließlich nur einen Zugang zum Turm. Wer hätte vorhersehen können, dass diese unausstehliche Göre durch eine sechs Meter dicke Eiswand brechen und in eine unbenutzte Besenkammer eindringen würde?
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Schneekönigin war nach Jahrhunderten einer durch die Königlich-Narratologische Gilde gepflegten Erzähltradition zum ersten Mal besorgt. Sie hatte keine Angst, Gott bewahre – dafür war sie viel zu mächtig! Aber dass sie doch ein wenig beunruhigt war, ließ sich nicht leugnen. Irgendwie war Daphne schließlich den Feuerstein-Räubern entkommen, hatte es durch die Weiten der Eiswüste geschafft und sogar die königlichen Schneewächter besiegt, die noch nie besiegt worden waren. Aus all dem hatte die Schneekönigin geschlossen, dass sie es wohl mit einem unheimlichen, ja, dämonischen Kobold zu tun hatte. Als massive Gegenoffensive hatte sie sämtliche Gefolgsleute am Eingang postiert.
Dieser Plan war nicht aufgegangen.
Die Tür zu Ralphs Gefängnis ging auf. Hereinspaziert kam die Schneekönigin. Sie wirkte abgespannt, das Gesicht wie versteinert.
»Die Lage hat sich verschlechtert«, sagte sie. »Cecil kann leider nicht bei dir bleiben.«
»Was machst du mit ihm?«, flüsterte Ralph. Zuletzt war das Gift höher dosiert gewesen und er zu schwach, um sich noch zu bewegen.
»Du brauchst dir um Cecil keine Sorgen mehr zu machen«, erklärte sie.
Unterdessen durchquerte Daphne hundert Zimmer, alle so leer wie der erste Raum, in den sie gelangt war. Das Einzige, was sie vorfand, waren gespenstische Fackeln. Deren kaltes, weißes Licht reichte kaum, um mehr als die Fackeln selbst zu erleuchteten.
Je weiter Daphne kam, desto klarer wurde ihr der Grundriss des Turms. Sie wanderte nämlich durch eine Aneinanderreihung von Höhlen, die wie die spiralförmig aufgerollten Kammern einer Nautilus-Muschel immer schmaler und kürzer wurden. Bald waren es von Tür zu Tür nur noch wenige Schritte. Dann bestanden die Räume nur noch aus Türen. Deren vereiste Oberflächen knirschten und rieben aneinander, wenn man sie öffnete. Schließlich trat Daphne durch eine schmale Pforte und gelangte zu einer Tür, die so imposant war, dass alle anderen dagegen bedeutungslos wurden. Sie bestand aus einer riesigen Scheibe Gletschereis und war so groß, dass Daphne sich strecken musste, um an den kalten Türknopf heranzukommen. Der Türknauf hatte die Form einer Messingkugel.
Zögernd legte Daphne ihre Finger auf das eisige Metall. Die ganze Tür erzitterte und öffnete sich.
38. Kapitel
In der Mitte eines zugefrorenen Sees saß ein Junge. Er war in einen dicken weißen Pelz gemummt und starrte auf die mitternächtliche Eisfläche.
Wie gelähmt stand Daphne im Türrahmen. Auch der Junge bewegte sich nicht. Sein Blick blieb fest auf das eigene Spiegelbild geheftet. Daphne beugte sich vor und schaute auf die tiefblaue Oberfläche.
Doch was sie sah, war nicht ihr Spiegelbild: Unter ihr schwamm etwas, das Daphne zuerst für Fische hielt. Sie ähnelten den Fischen, wie man sie manchmal in Tierhandlungen findet, vollkommen durchsichtig, nur dass manchmal die Schuppen aufblitzen. Aber dann sah Daphne, dass es in Wirklichkeit Wörter waren, schimmernde, glitzernde Wörter. Sie konnte sie
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