Die Affen von Cannstatt (German Edition)
beeinflusse oder bedrohe oder Beweismaterial beiseiteschaffe.
Ich lache laut und unecht. Welche Zeugen soll ich bedrohen? Es gibt doch keine. Und was soll ich beiseiteschaffen? Sie haben doch meine Wohnung praktisch ausgeräumt. Und wenn sie auf meinem Computer zu Hause meine privaten Texte gelesen haben …
Ich sehe Onkel Gerald an, dass sie es getan haben, und er auch. Ich bin nicht mehr privat. Weder mit meinem Liebeskummer noch den Intimitäten, meinen Ängsten, Schwächen und Selbstanklagen. Ich habe aber nicht geschrieben, damit es ein anderer liest. Sie werden zu viel missverstehen.
Es ist zum Amoklaufen!
Das, meine liebe Camilla, sagst du nicht noch einmal zu irgendjemandem, schimpft Onkel Gerald. Er ist ärgerlich. Womöglich hält er mich schon für verrückt. Er schlägt mir vor, für meinen Antrag auf einen Laptop eine detaillierte Begründung zu formulieren. Deine Dysplasie ist ein Argument, aber die wird der Anstaltsarzt überprüfen.
Man sieht es meiner Handschrift an, sage ich bissig.
Ich soll erklären, dass ich das Tagebuchführen am Computer seit jeher für meine psychische Hygiene und Stabilität benötige und die Zeit der U-Haft dafür nutzen will, mir selbst auch im Hinblick auf meine Verteidigung Klarheit über meine Handlungen und Motive zu verschaffen, was einen Text von erheblichem Umfang zur Folge haben wird.
Mit der Hand soll ich das krakeln? In Kinderschrift? Ich schreie Onkel Gerald regelrecht an. Die halten mich doch für eine Analphabetin. Das ist entwürdigend.
Ich heule drei Tage durch. Es ist mein zweiter großer Verzweiflungsschub.
Dann, eines Tages, holt mich die Stationsbeamtin aufs Büro. Und da stehen Weihnachten und Ostern. Ich darf zwei Kisten auspacken. Die eine enthält einen Laptop, die andere einen kleinen Drucker. Auf der Zelle stelle ich fest, dass auf den Computer nur ein Opensource-Schreibprogramm aufgespielt ist. Die USB-Slots sind fest zugestöpselt, die W-Lan-Empfänger vermutlich ausgebaut. Aber es gibt in der oberen Leiste eine Uhr mit Datumsanzeige. Es ist Dienstag, der 29. Januar, 13:14 Uhr. Ich schwimme im Glück. Das habe ich geschafft.
Einen Monat hat es gedauert. Es hat mich reduziert auf eine dauerhafte latente Verzweiflung, die schnell ausbricht, ohnmächtigen Grimm, der sich plötzlich in Wut verwandelt, die Schmerzen, die Ungerechtigkeit verursacht, und Ärger, einen tiefen düsteren Ärger. Das Gebäude atmet diese Gefühle ein und aus. Der Schließgang füllt sich damit, wenn meine Zellennachbarin Rabia mit den Schlusen Streit anfängt, weil das Essen nicht heiß genug ist. Oder wenn Andrea den Grünen die Worte Menschenwürde und Menschenrechte hinterherschreit.
Die Schließerinnen verbitten sich diesen Ton oder zucken mit den Achseln. Ich sehe ihnen an, dass sie sich vorgenommen haben, uns nicht an sich herankommen zu lassen. Es gibt kein Mitleid in ihren Augen. Aber manchmal sehe ich Angst.
Sie haben kürzlich Rabias Zelle durchsucht. Den ganzen Tag habe ich gehört, wie sie die Wände auf Verstecke abklopfen. In den Tagen danach tritt Rabia verächtlich schweigend mit dem Tablett auf den Gang. Eine Steigerung ihres Hasses auf die Schlusen, die Wachteln, die Schlüsselfotzen ist nicht mehr möglich.
Sie haben ihre Tätowiernadel gefunden. Die hat sie mit Hilfe eines Feuerzeugs aus einer Kugelschreiberhülle und dem Kupfer eines Elektrokabels zusammengeschmolzen. Die Farbe rührt sie auf der Unterseite des Kaffeebechers aus dem Ruß von mit Margarine beschmiertem Toilettenpapier und noch etwas an, das sie nicht verrät. Sie stempelt während des Aufschlusses auf den Zellen. Natürlich verboten. Für ein fertiges Tattoo bekommt sie einen Koffer, so heißen die Drehtabakpäckchen. Mich hätte sie auch gestempelt, wenn ich es gewollt hätte, sogar für umsonst. Weil ich ihr die Briefe vom Gericht und der Staatsanwaltschaft erkläre und Antworten diktiere.
Rabia kommt aus Künzelsau. Sie ist Deutschrumänin und zum dritten Mal eingefahren. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren. Sie hat bereits zwei Kinder von zwei Vätern. Sie sagt, sie vermisst die Kinder, sie hat ein schlechtes Gewissen wegen dem, was die durchmachen müssen, weil sie es immer wieder verbockt. Ich denke, eigentlich sind sie ihr egal, sonst hätte sie nicht immer nur an sich gedacht.
Angefangen hat es vor vierzehn Jahren, erzählt sie. Als sie nach Deutschland kamen. Alle haben Drogen genommen, weiche Drogen, Haschisch und so. Dann hatte sie Probleme daheim und hat auch
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