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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Papier und Briefumschläge muss ich einen Vormelder ausfüllen. Mit dem Kugelschreiber der Abteilungsbeamtin. Ich hätte bei meiner Einlieferung auf Schreibzeug bestehen sollen, erfahre ich von Andrea. Sie gibt mir immer ihre gelesene taz vom Vortag. Halb sechs ist Nachteinschluss, um neun geht das Licht aus.
    Und ständig habe ich Hunger. Er beginnt morgens nach dem Hofgang. Mein Magen gurgelt in der Gier aufs Mittagessen. Ich träume von Tomaten, Zucchini, Auberginen, Fischfilet. Um elf ist es kaum noch auszuhalten, bis sich endlich außen der Schlüssel dreht und die Tür aufgeht. Mit dem Geruch nach Kantine kommen Kartoffeln, Frikadellen, Blumenkohl, manchmal Suppen, selten Nudeln oder Reis, manchmal Salat, Äpfel und zitronensaure Orangen. Und Graubrot.
    Ich komme mit Rabia ins Gespräch. Sie belegt die Nachbarzelle oder Hütte, wie man hier sagt. Eine drahtige Dunkelhaarige mit Tattoos auf Armen und Hals. Ob ich Tabak brauche? Oder was anderes? Brauche ich nicht. Aber Tee. Hat sie nicht. Nur Kaffee.
    Es ist Rabia, die mich in den Mittagstisch im Aufenthaltsraum einführt. Sie sind neugierig nett. Sie fragen, warum ich hier bin. Ich bin unsicher, ob ich antworten darf. Ich bin unschuldig, schicke ich vorweg, dann sage ich: Wegen Mordes. Sie nicken. Wir sind alle unschuldig, sagt eine, deren Namen ich mir nicht merke. Sie lachen.
    Sie reden über Post vom Gericht, die sie Fanpost nennen. Über einzelne Schließerinnen, die hier Schlusen oder Grüne heißen. Der Kartoffelbrei heißt Natokitt, Linsen nennt man Bärenkot. Mehr als 2,21 Euro darf die Anstalt nicht pro Kopf für unsere Tagesverpflegung ausgeben, erklärt mir Andrea. Aber in Gotteszell ist das Essen noch gut, sagt Rabia.
    Die Kehle wird mir heiß, wenn ich an meine Tees daheim denke, den grasartigen Kukicha, den ich abends trinke, einen grünen Tee, der wegen der vielen Stängel und Blattrippen nicht viel Koffein enthält. Bis zu fünf Mal kann man ihn aufgießen. Oder meinen Morgentee, den smaragdfarbenen Sencha aus dem Süden Japans mit seinem süßlichen Geschmack. Er hat einen hohen Vitamin-C-Gehalt. Mir schießt der Speichel in den Mund. Es tut höllisch weh. Sehnsucht und Gier nach einfachsten Genüssen schmerzen in der Leere von Zeit. Mangel macht korrupt. Ich bin zu fast allem bereit, um guten Tee zu bekommen. Nicht den Catechin-reichen Beutelschwarztee, den es im Anstaltskiosk gibt.
    Ja, einmal in der Woche ist Kirmes. Dann dürfen wir im Anstaltsladen einkaufen. Ich bin nach Weihnachten zum ersten Mal dabei. Einkaufswagen stehen bereit. Im Ladenraum dann Regale mit Chipstüten, Cola, Tabak, Zigaretten, Feuerzeugen, Schokolade, Orangensaft, Keksen, Grillsoßen, Ketchup, Mayonnaise, Tütensuppen, Instantkaffee, Dosen mit Ravioli, sogar frischen Paprika und Bananen. Da wir uns selbst mit Hygieneartikeln versorgen müssen, gibt es Shampoo, Zahnpasta, Seife, Tampons, Slipeinlagen, Binden, Duschgels, aber auch Unmengen von Nagellackfläschchen, Lippenstiften, Make-up und Mascara. Sich auftakeln zur Rettung der weiblichen Identität einer Mörderin. Den Wasserkocher, der oben auf dem Regal steht, darf ich als U-Häftling nicht kaufen. Warum nicht?
    Für das, was man uns auf die Insel verschifft, zahlen wir das Doppelte wie draußen. An der Kasse unterschreibe ich, dann wird mein Eigengeldkonto belastet, vorausgesetzt, jemand hat für mich eingezahlt. 58,20 Euro darf ich pro Monat ausgeben. Warum nicht mehr? Vorschrift. Warum gerade diese Summe? Achselzucken.
    Ich beantrage und bestelle ein Justizvollzugsgesetzbuch. Darin steht, dass ich für meinen Einkauf nicht mehr als den zwanzigfachen Tagessatz der Eckvergütung haben darf. Die Eckvergütung errechnet sich aus dem Lohn, den ich für Arbeit in der U-Haft bekommen würde. Und der beträgt 9 Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung von Arbeitern und Angestellten. Aber nur über einen Teil, nämlich 3/7, darf ich verfügen. Den Rest spart die Anstalt für mich. Demnach würde mein Tageslohn für Arbeit etwa 6 Euro und ein paar Cent betragen.
    Es war eine Gemeinheit, dass die Beamtin bei meiner Verhaftung darauf bestanden hat, dass ich die Armbanduhr zu Hause lasse. Sonst hätte ich Antrag auf Herausgabe der Uhr aus meiner Habe stellen können. Jetzt muss ich mir eine kaufen. Denn meine Pflegemutter darf mir solche Dinge von mir daheim nicht mitbringen, auch nicht den Fernseher, der dort ungenutzt steht. Ich muss einen kaufen oder ausleihen, jedoch nur

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