Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Matriarchat leben.
Haftbuch, 7. Mai
Ich habe mehrere Schreiben vom Gericht und von Onkel Gerald bekommen. Mein Prozess soll am 2. Juli beginnen und ist auf zehn Verhandlungstage angesetzt. Ich habe gedacht, es wäre mir eine Erleichterung. Aber auf einmal ist nur noch Angst da. Zwei Monate. Wie soll ich in der kurzen Zeit meine Unschuld beweisen?
Haftbuch, Dienstag, 8. Mai
Wir haben einen Neuzugang. Zwei Zellen von mir entfernt klebt ein roter Punkt auf der Tür. Suizidgefahr. Sie ist bei Koza untergebracht. Die soll jetzt aufpassen, dass sie sich nichts antut. Die Verantwortung möchte ich nicht haben. Ich könnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich habe sie beim Abendaufschluss gesehen. Eine füllige Frau Anfang fünfzig, ländlich gekleidet, schwarze Hosen, weite Bluse, Jeansjacke. Ihr Blick ist verwirrt und verschreckt, vermutlich so wie meiner am Anfang.
Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh
Die beiden sind ein Paar, dessen bin ich mir sicher, so wie sie nach dem Abschied von Heidrun und mir nebeneinander den Weg zum Südamerikahaus fortgehen. Ein bisschen zu dicht nebeneinander. Mittlerweile glaube ich aber, dass nicht er, sondern sie der schwächere Teil des Gespanns ist. Ihr fehlt das innere Gleichgewicht. Ich habe gesehen, wie ihr Gesicht verfällt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Dann rutscht wie ein Rollladen ein depressiver Schatten herab. Die hat niemanden, der sie liebt, denke ich. Oder vielmehr: Sie ist unfähig, Zuneigung anzunehmen. Darum provoziert sie lieber. Ärger und Feindschaft sind leichter zu steuern als Liebe.
Heidrun erzählt, dass Nerz schon am Samstagnachmittag da war, als Reporterin des Stuttgarter Anzeigers. Da hat sie auch ständig gefragt, ob man die Tat einem einzelnen Affen zuordnen kann. Irgendwann hat Heidrun ihr von der Bonobostudie und von mir erzählt, ohne zu sagen, wie ich heiße. Heute früh hat Nerz dann bei ihr angerufen und ihr meinen Namen genannt. Daraufhin teilte Heidrun ihr mit, dass ich am Nachmittag käme. »Ich hätte dich vorwarnen müssen«, sagt sie. »Aber ich hab’s vergessen.«
Ich verstehe: Seit Montag hat Nerz versucht, an mich ranzukommen. Ziemlich seltsame Idee, mir wie ein Schlapphut nachzuschleichen. Ich frage Heidrun nach der Affenhausführung für Peofis-Manager. An Till kann sie sich nicht erinnern. Sie ist erschrocken. »Der war dabei?«
»Er hat sich sehr verändert«, beruhige ich sie.
An die Gruppe von Peofis erinnert sie sich gut, vor allem an die einzige Frau, die dabei war, Dr. Seitz. »Sie hat alles ganz genau wissen wollen. Aber nicht über die Affen, sondern wie wir hier arbeiten. Wie viele, in welchen Schichten, wann wir anfangen, wann wir nach Hause gehen, ob es einen Nachtdienst gibt, wie viele Lehrlinge wir ausbilden.«
Ende August war das. Daran erinnert sich Heidrun so genau, weil Kollege Jürgen am Morgen danach bei den Orang-Utans im Gehege einen Schuh gefunden hat, einen einzelnen Herrenschuh von Boss. Sie haben gewitzelt, der stamme wohl von einem der Manager. Aber es war natürlich klar, dass das nicht sein konnte, weil Heidrun mit ihnen nicht hinten gewesen war. Dennoch rätselhaft, wie der Schuh zu den Orang-Utans hineingekommen ist. Der Lehrling hat alles abgestritten. Heidrun hebt die Schultern. »Der war halt immer ein bissle husch-husch beim Saubermachen. Wer weißt, wo der seine Gedanken gehabt hat.«
Ich lege frische Spuren in den Schnee auf dem Weg am Rosettenfries entlang zur Kreuzung am Wilhelmatheater. Plötzlich blitzt die tiefstehende Sonne durch die Wolken und taucht Cannstatt in gelbes Licht.
Ich atme tief ein. Ich bin sie los, diese beiden Inquisitoren. Sie kehren in ihre Welt auf der anderen Seite des Schwanentunnels zurück, der den Rosensteinpark oder den Kahlenstein, wie man früher den Riegel zwischen Stuttgart und Cannstatt nannte, durchsticht. Sie werden lange brauchen, wenn sie so dumm sind, mit dem Auto zu fahren. Und Weber hat nach Autofahrer ausgesehen.
Ich überquere die Rosensteinbrücke. Die wenigen Autos, die am Hochbunker über die Kreuzung kriechen, finden die Spur nicht, rutschen aufeinander zu, schlingern beim Abbiegen auf die Fußgängerinseln. Das Landhaus Bellevue mit seinen verschneiten Fenstergiebeln fällt mir ins Auge. Vor zweihundert Jahren stand es noch dort, wo heute das Wilhelmaparkhaus ist. König Wilhelm verkaufte es, und der Käufer versetzte das Bellevue über den Neckar hinweg hierher, wo es unsichtbar wird. Noch seltener als das alte Landhaus bemerken die
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