Die Affen von Cannstatt (German Edition)
»Ich warte nicht ab, bis jemand etwas mit mir anstellt.«
»Oha!« Sie steckt das Pfefferspray in die Tasche ihrer Kapuzenjacke, die übrigens ziemlich übel aussieht: fleckig, aufgeplatzte Nähte, der Reißverschluss ausgerissen, ein Ärmelbund hängt halb herunter. Ich schätze sie auf Anfang vierzig. Eine Göre, die nicht erwachsen werden will. Im Licht der Deckenlampe sehe ich auch die Narben in ihrem Gesicht, die sie auf der Profilbildzeichnung ihres Facebookaccounts so herausstellt.
»Warum verfolgen Sie mich?«
»He«, ruft sie mit gespielter Entrüstung. »Bin ich eigentlich so alt, dass du mich ums Verrecken nicht duzen kannst?«
»Wir kennen uns nicht.«
Gelächter hallt in meiner Dachstube unangenehm herum. »Stimmt, meine Facebookanfrage hast du nicht beantwortet. Deshalb musste ich dir leider nachstellen. Ich wollte dich nicht im Geschäft anrufen. Ich hätte über die Zentrale gehen müssen, und am Ende hätte sich herumgesprochen, dass die Presse nach dir gefragt hat. Und das wäre vielleicht nicht in deinem Interesse gewesen.«
»Sie hätten ja nicht sagen müssen, dass Sie von der Presse sind.«
Sie lacht. »Du liest wohl keine Zeitung? Und du konsumierst auch keine Massenmedien, was?«
»Wieso? Sind Sie berühmt?«
»Nur in gewissen Kreisen, die dir, meine Schöne, offenbar fremd sind.«
»Woher hatten Sie überhaupt meinen Namen? Woher wussten Sie, wo ich arbeite?«
»Ich bin Journalistin, Camilla. Wenn auch eine granatenfaule.« Sie lächelt, als sei sie stolz darauf. »Die Bonobostudie ist zwar nie veröffentlicht worden, jedenfalls habe ich sie im Internet nicht gefunden, aber irgendwer erinnert sich immer. Ich musste nicht einmal die Unis abklappern, ich brauchte nur meine Freundin Sally zu fragen.«
Plötzlich fällt es mir ein: So hieß sie, die Kellnerin im Tauben Spitz.
»Sie ist die schwäbische Frau Dr. Dolittle«, erklärt Lisa. »Die Tiere reden mit ihr. Mit anderen Worten: Sie ist fest in der Tierschutzszene verankert. Wenn irgendwo ein Viech gequält aufschreit, dann ist sie zur Stelle. Deshalb hat sie auch mich vor vielen Jahren in ihren Tierpark aufgenommen. Neuerdings sind ja die Zoos das, was in meiner Jugend die Pelztierfarmen und Legebatterien waren: igitt, böse, Tierquälanstalten. Sally hat gar nicht lang überlegen müssen. Von der Studie hatte sie nämlich gehört, und zwar von der Autorin höchstpersönlich. Zoohaltung führt zu Gewalt und Kannibalismus bei den Bonobos oder so. Deshalb hat man sie verschwinden lassen. Also die Studie.«
Ich staune.
»Und den Professor gleich mit.«
»Wie?«
»Der musste sogar unter mysteriösen Umständen ums Leben kommen.«
»Wieso?«
»Man hat ihn tot am Hofener Wehr gefunden, kaum fünf Kilometer von hier, gut zwei Wochen nach seinem Verschwinden am 23. Dezember 2008. Davon hast du doch sicher gehört.« Sie schaut mich prüfend an.
Leugnen ist zwecklos.
»Die Todesumstände sind nie abschließend geklärt worden«, sagt sie. »War er betrunken und ist ausgerutscht und ins Wasser gestürzt, oder wurde er gestoßen? Man hat Kieselalgen in seinem Blut gefunden, also ist er ertrunken.«
Sie klingt, als wolle sie damit etwas andeuten, was mich in eine Verteidigungshaltung bringen soll. »Und warum erzählen Sie mir das?«, frage ich.
»Weil er dein Professor war. Und vielleicht noch etwas mehr.«
Ich schnaube. »Was soll das denn heißen? Dass ich was mit ihm hatte? Definitiv nicht. Ich hatte einen Freund.«
»Aber du hast dich unmittelbar nach seinem Tod in Tübingen exmatrikuliert.«
Wie hat sie das so schnell rausgekriegt? »Ich hatte mich schon vorher entschlossen aufzuhören.«
Sie zieht die Brauen hoch. »Warum? Zu primitiv und langweilig?«
Seltsamer Gedanke. »Wieso das denn?«
»Du hast doch sicher einen IQ von 911 oder so.«
Wie kommt sie auf diese Zahl?
»Ich meine«, erklärt sie, »porschemäßig … auf der Überholspur.«
»Ach so.«
Sie lacht. »He, Camilla, entspann dich! Über Witze lacht man.«
»Der IQ wird nicht in Porsche gemessen«, sage ich.
»Denn IQ heißt eigentlich Idioten-Quarantäne«, legt sie nach.
Ich muss beinahe lachen. Sie hat eine umstürzlerische Phantasie. In mir weitet sich was. Ich entspanne mich unwillkürlich.
»Diese Bonobostudie war doch eine soziologische Arbeit, keine biologische?«, fragt sie. »Was hat Professor Schmaleisen damit bezweckt?«
»Deeskalationsstrategien bei unseren nächsten Verwandten. Von den Affen lernen.«
»Nämlich, dass Sex
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