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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Leute den Rosensteinbunker. Jedes Mal, wenn ich an der Eisentür mit dem Vorhängeschloss vorbeigehe, frage ich mich, wer wird aufschließen, wenn es Alarm gibt? Chlorgasalarm im Hallenbad Cannstatt zum Beispiel. Aber dafür ist der Bunker vermutlich nicht da. Sondern für den Fall eines Kriegs- oder Terrorangriffs mit chemischen oder biologischen Waffen. Obgleich er dann nur gut fünfhundert Menschen Schutz bieten würde. Acht Stockwerke ragt er hoch, doch die meisten sehen in ihm nur die Werbefläche für Kärcher und Konsorten. Es gibt viele unsichtbare Gebäude in der Stadt. Genauso wie es unsichtbare Menschen gibt.
    Ich schlittere in die Brählesgasse und biege in den Hagelschieß ein. Schnee und Salz auf Kopfsteinpflaster ergeben eine sulzige Schmiere. Unten im Treppenhaus ziehe ich mir die Stiefel aus, trage sie die Stiegen hinauf und stelle sie auf den Putzlumpen vor meiner Tür. Ich bin eine Stunde früher zu Hause als sonst. Eine geschenkte Stunde, durch einen Arzttermin erschlichen. Lieber hätte ich nicht gelogen. Unsere Mitarbeiter fühlen sich dem großen Ganzen verpflichtet und genießen unser Vertrauen, steht im Leitfaden. Die oberen Gehaltsklassen kommen und gehen, wann sie wollen. Manche arbeiten lieber im Wald oder daheim am Esstisch. Dass auch wir unteren Gehaltsgruppen selbst bestimmen könnten, wann und wo wir unsere Aufgaben erledigen, ist ein Irrtum, dem ich zu Anfang erlegen bin. Eigenartig, wie engherzig Till geworden ist. Als ob er nichts Besseres zu tun gehabt hätte, als uns möglichst effizient kleinzuhalten.
    Ich setze Teewasser auf und denke über mein letztes Gespräch mit ihm nach. Genau eine Woche liegt es zurück. Aber der schlechte Nachgeschmack hält bis heute an.
    In Manuelas Protokoll steht: »Es ist wie Teer, den ich mir nur mit den Fingernägeln samt Haut vom Leib kratzen kann. Ich kratze mir nachts, wenn ich wach liege, die Haut blutig und fantasiere Antworten, die ich Deutschbein das nächste Mal geben werde. Doch das nächste Mal wird er mich mit einem anderen Vorwurf konfrontieren, auf den ich nicht gefasst sein kann, weil er absurd ist.«
Das Teewasser kocht noch nicht, da klingelt es. Ich gehe zur Gegensprechanlage und höre: »Lisa Nerz. Kann ich mal kurz raufkommen?«
    Nein, schwebt mir auf der Zunge. Aber wer sagt das schon? Ich höre hastige schwere Stiefel auf den Stiegen. Erst erscheint ihre Hand auf dem Handlauf, dann kommt sie um die Kehre gesprungen. Sie lächelt schneenass und zieht ihre Lederjacke aus. »Schöne Wohnung. Die Schuhe auch?«
    »Wenn es keine Umstände macht.«
    Sie lacht. »Und wenn es doch Umstände macht?«
    Was soll ich dazu sagen? Ich mag es nicht, wenn konventionelle Formulierungen ad absurdum geführt werden. Das ist mir zu billig. Konventionen sind dazu da, sich zu verständigen, ohne einander zu nahe zu treten oder gar zu beleidigen.
    Sie tritt sich die Stiefel von den Füßen. »Ich bin deinen Spuren im Schnee gefolgt«, verkündet sie. »Sehr romantisch.«
    Ich mache einen Schritt zur Kommode, wo meine Handtasche mit dem Pfefferspray steht. Sie bückt sich, um die Stiefel vor die Tür zu stellen. Ich öffne meine Handtasche. Jetzt? Aber ich zögere. Und plötzlich steht sie mir gegenüber, fasst in meine Handtasche und hält das Pfefferspray in der Hand. »Ist dir eigentlich klar, dass man damit einen Menschen töten kann, Camilla?«
    Ich mag ihren Ton nicht.
    »Aber ja doch«, bekräftigt sie mit einem dramatischen Kopfnicken. »Hätte ich Koks genommen oder ein Antidepressivum, dann wäre ich jetzt vermutlich tot. Capsaicin reizt die Schmerzrezeptoren. Substanz P wird ausgeschüttet, ein Neurotransmitter, der schmerzwahnsinnig macht. Bei Asthmatikern oder bei Leuten, die Drogen oder Psychopharmaka genommen haben, läuft dann irgendetwas aus dem Ruder, und sie sterben.«
    »Das glaube ich nicht. Wäre es sonst frei verkäuflich? Und wer Drogen nimmt …«
    Sie lacht heraus. »Du bist glatt, Camilla. Das gefällt mir. Schwäbische Geradheit, klares Urteil, sanft vorgetragen. Wer Drogen nimmt, ist selber schuld. Hast du denn wirklich gedacht, ich hätte dich angegriffen?«
    »Wenn Sie glauben, ich würde mich entschuldigen …«
    Sie grinst. »So weit muss es ja nicht kommen. Aber eine Erklärung würde mich schon interessieren. Warum musstest du ohne Vorwarnung abdrücken? Ein Dutzend gelangweilte Autofahrer saßen hinter ihren Lenkern und haben zugeschaut. Was hätte ich denn mit dir anstellen sollen?«
    Ich halte dem Blick stand.

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