Die Affen von Cannstatt (German Edition)
auch schnell suchen. Manchmal reicht mir die Zeit noch, den USB-Speicher wieder in die Ritze zurückzustecken, bevor Jo vom Klo kommt. Manchmal kann ich es erst am anderen Morgen tun, wenn sie auf der Toilette ist.\\
Nein, ich werde ihr nicht sagen, dass ich ihre Tochter bin. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich will nicht, dass sie glaubt, sie sei mir nahe. Ich will diese Nähe nicht.
Aber ich frage sie ab und zu nach ihrem Leben. Sie ist in Rotenburg geboren, irgendwo zwischen Hamburg und Bremen. Erinnerungen hat sie nur ans Kinderheim in Bremen. Ihre Eltern waren Rocker, sagt sie, und sind erschossen worden. Sie sagt es, als wisse sie es genau. Dabei kann sie es nicht wissen. Irgendwer hat ihr irgendwas erzählt. Sie weiß nicht einmal, wer. Aber es ist dieser Glaube, in dem sie aufgewachsen ist. Von ihren Eltern hat sie nie Fotos gesehen. An den Namen ihrer Mutter erinnert sie sich nicht. Er ist verschollen. Das entsetzt sie. Sie weint.
Ich kenne immerhin den Namen meiner Mutter: Josefine Tanner. Aber das kann sie nicht wissen. Ich heiße ja jetzt Feh. Mein Vorname lautet Camilla. Auch diesen Namen kennt meine Mutter nicht. Denn als man mich Dreijährige fragte, wie ich heiße, habe ich Milla geantwortet. Meine Pflegeeltern haben es für die Abkürzung von Camilla gehalten. Von meiner Mutter erfahre ich nebenbei, dass ich Ludmilla geheißen habe.
Mein erstes Kind, das am Leben geblieben ist, sagt sie. Und das hat man ihr dann weggenommen.
Ich frage nach den näheren Umständen. Ihre Antworten sind verwaschen. Eine Räumungsklage, sie ist auf Wohnungssuche gewesen, und eines Tages, als sie zurückkam, hat Polizei vor dem Haus gestanden. Sie hat gedacht, sie räumen jetzt, sie nehmen ihr das letzte Geld ab und werfen sie ins Gefängnis. Sie hat auch gesehen, wie sie mich wegbrachten. Da hat sie sich umgedreht und ist weggegangen. Bei anderen Leuten hätte es die Kleine ja doch besser als bei ihr. Sie war krank – suchtkrank, vermute ich –, ohne Arbeit, sie konnte den Strom nicht mehr bezahlen. In Deutschland hat sie danach nichts mehr gehalten. Sie ist per Autostopp nach Spanien gefahren. Ich vermute, sie hat sich mit Prostitution durchgeschlagen. So deutlich will sie das aber nicht sagen.
Dieter ist ihre große Liebe gewesen, sagt sie. Es hat sofort Klick gemacht.
Ich frage sie nach den anderen Kindern. Den toten. Darüber will sie nicht reden, es belastet sie zu sehr. Sie redet dann aber doch. Ohne fertige Worte und Sätze. Sie redet offenbar zum ersten Mal darüber. Ihre Erinnerung ist lückenhaft und summarisch. Die erste Schwangerschaft hat sie nicht bemerkt. Plötzlich Schmerzen. Sie hat sich aufs Klo gesetzt. Immer wieder. Und wie sie aufsteht, liegt plötzlich das Wurm in der Schüssel. Es ist tot. Woran sie das erkannt hat? Es hat sich nicht bewegt. Es hat nicht geschrien. Sie lässt es eine Nacht und einen Tag in ein Handtuch geschlagen im Badezimmer liegen.
Dann habe ich es weggebracht und begraben, sagt sie.
Die ersten drei waren von einem Mann, von dem sie nur noch den Spitznamen weiß: Kingkong. Selbst die dritte Schwangerschaft überrumpelt sie noch. Das Kind ist nach wenigen Stunden gestorben. Oder war es das zweite? Das vierte ist von einem anderen Mann, einem Holländer namens Sander – den Nachnamen hat sie vergessen –, der im Neckarhafen gearbeitet hat. Als es mit den Wehen losgeht, weiß sie immerhin, dass wieder ein Kind kommt. Und dieses Kind bin ich. Das vierte also.
Das fünfte war von wieder einem anderen Mann, mit dem sie nur ein paarmal im Bett war. Es war ganz winzig und kam tot.
Warum bist du nie zu einem Arzt gegangen?, frage ich.
Sie schaut mich ratlos an. Ich war doch nicht krank.
Aber als es losging mit den Wehen beim dritten, spätestens beim vierten Kind, da hättest du dich doch ins Krankenhaus bringen lassen können. Du wusstest doch, was kommt.
Sie überlegt. Vielleicht hätte ich sollen. Ja, du hast wohl recht.
Dann fällt ihr ein, was dagegen spricht. Ich hatte Angst, dass sie merken, dass es nicht mein erstes Kind ist. Dass sie Fragen stellen. Und außerdem wusste ich doch, wie es geht. Das Krankenhaus hätte ich auch gar nicht bezahlen können. Ich war nicht krankenversichert. Und dann die Beerdigungskosten und all das. So ist es doch auch gegangen.
Es hätte dir erspart, dass du jetzt in U-Haft sitzt, sage ich.
Das sieht sie ein. Sie schaut mich mit weit offenen Augen an und sagt: Aber ich habe doch keinem der Würmer was angetan, ehrlich nicht. Ich bin
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