Die Affen von Cannstatt (German Edition)
doch die Leidtragende. Und nachher habe ich zwei Buben großgezogen. Und meiner kleinen Ludmilla hat es an nichts gefehlt bis zum dritten Lebensjahr. Bis man sie mir weggenommen hat. Daran sieht man doch, dass ich eine gute Mutter bin. Ich kann doch nichts dafür, dass die anderen nicht lebensfähig waren.
Haftbuch, 7. Juni
Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll. Die ganze Nacht und den ganzen Tag über kotze ich alles ins Klo, was ich zu mir genommen habe. Jetzt will die Schluse einen Arzt holen.
Sonntag, 9. Juni
Ich war zwei Tage auf dem Krankenrevier, wo ich an den Tropf gehängt wurde. Neben mir lag eine auf Entzug. Sediert. Nachts schrie sie. Aber es hat mir nichts ausgemacht.
Zum ersten Mal, seit ich hier bin, fühle ich mich frei und leicht. Es ist wie Urlaub. Ab und zu schaut jemand nach uns. In weißem Kittel, nicht in grüner Tracht. Ansonsten lässt man uns in Ruhe. Es gibt Joghurt. Vor dem Fenster rauscht der Wind in den Bäumen. Ich döse und lasse meine Gedanken wegtragen. Es scheint wohl doch noch Sommer werden zu wollen.
Ich begebe mich auf Fahrradtour durch Cannstatt raus, hoch auf den Kappelberg und dann durch den Schurwald, der das Remstal begleitet. Fast bis Schwäbisch Gmünd kann man so radeln, bevor es in Serpentinen wieder hinuntergeht nach Lorch. Und bis Stuttgart käme ich von hier auch. Oder ich fahre mal wieder am Neckar entlang nach Marbach.
//Bis heute Abend musste ich dann gesund und wieder auf meiner Hütte sein, denn morgen kommt Weber.
Haftbuch, 10. Juni
Er war wie versprochen hier, um meinen vollen USB-Speicher abzuholen und mir einen leeren zu geben. (Ich habe ihn beim Putzen in der Socke bei mir getragen.)\\
Freimütig, mit leiser und präziser Artikulation, sachlich, aber doch auch nicht ohne eine gewisse Abscheu erzählt Weber mir, was den Behörden über die toten Kinder meiner Mutter derzeit bekannt ist.
Das rechtsmedizinische Gutachten in der Akte der Soko Muckensturm lässt offenbar viel zu wünschen übrig. Ein eindeutiger Beleg für äußere Gewaltanwendung findet sich darin nicht, meint Weber, auch wenn der Gutachter resümiert, die Kinder hätten gelebt und seien vermutlich erstickt worden.
Damals, Anfang der Neunziger, war die Gentechnik noch nicht so weit wie heute und auch nicht die Methode der ersten Wahl. Eine zentrale Datenstelle gab es noch nicht. Erst Monate nach dem Leichenfund ist man darauf gekommen, die DNS einer der Babyleichen mit meiner zu vergleichen. Und dies auch nur, weil eine Zeitung einen Zusammenhang hergestellt hatte zwischen dem verwahrlosten Kind in der Wohnung am Zuckerberg und den Leichen vom Muckensturm.
Nach der Obduktion wurden die sterblichen Überreste aller Säuglinge auf Staatskosten in anonymen Gräbern auf dem Hauptfriedhof Steinhaldenfeld in Cannstatt beigesetzt. Nur von einer Leiche sind noch etwas Knochenmark und die DNS in der Asservatenkammer vorhanden. Das Material wird jetzt mit heutigen Mitteln noch einmal analysiert.
2006 wurden die Gräber dann aufgelassen und das Gebiet für neue Bestattungen freigegeben. Nur mit großem finanziellem und personellem Aufwand würden sich heute aus dem Erdreich unter den neuen Gräbern noch Knochenreste herausfiltern lassen. Und das würde man höchstens dann tun, wenn die begründete Erwartung bestünde, dass nur dies zur Entlastung der Beschuldigten beitragen kann.
Was das denn sein könnte, habe ich Weber gefragt. Was könnte meine Mutter entlasten?
Zum Beispiel Hinweise auf eine neonatal tödliche Erbkrankheit.
Und wie hat Lisa sie überhaupt gefunden?, frage ich.
Weber erzählt, zuerst hat sie sich tagelang in den Häusern an der Zuckerbergstraße umgehört. Als Zeitungsjournalistin: die Akte ungelöster Fälle noch einmal aufschlagen.
Die meisten, die heute am Zuckerberg wohnen, kannten meine Mutter nicht mehr. Aber in solchen Wohnblocks leben immer auch einige seit vierzig Jahren. Und eine dieser Alten erinnerte sich, dass die junge Frau Tanner ihr einmal eine Karte aus Spanien geschickt hatte. Sie besaß diese Karte aus dem Jahr 1991 sogar noch, weil ihr das Motiv so gut gefallen hatte. Die Postkarte zeigte eine Bar La Concha am Kai einer kleinen Hafenanlage. Gestempelt war die Marke in Águilas. Weil sie telefonisch nicht weiterkam, reiste Lisa Anfang April nach Südspanien und trieb sich dort einige Wochen herum. Über die Bar La Concha tat sie schließlich Leute auf, die sich an Josefine Tanner erinnerten, selten positiv. Sie muss so etwas zwischen Hippie und Nutte
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