Die Ahnen der Sterne: Roman (German Edition)
eingehen zu können. Das Implant zu überschreiben war weniger gefährlich.
Sie wartete unter der geschwungenen, unglaublich komplexen Datenform, einem leuchtenden Softwareagglomerat, das mit gleißenden Nadeln zur Vorbereitung auf die Übermittlung des komprimierten Datenbestands die Struktur ihres fraktalisierten Bewusstseins vorscannte. Harry bedachte sie mit einem sarkastischen Blick, als die letzten Millisekunden verstrichen, und sie meinte, in seinem Gesicht einen Anflug seines wohlbekannten Sarkasmus wahrzunehmen.
Und dann wurde alles unscharf und glitt davon, dehnte sich zu einer regenbogenfarbenen Spirale, die sich immer weiter in das Weiß schraubte …
Dann setzte der Zeitfluss wieder ein. Sie hatte das Gefühl, irgendwo zu sein, doch ihr war dunkel vor Augen, und sie hörte nichts. Das kam bestimmt vom VR-Headset, das alle gefangenen Getunten trugen. Die Subserver-AIs hatten ihr erklärt, das Implantat verfüge über ein Hardware-Interface, das ihre Eigenbewegung und ihre Wahrnehmungsimpulse einander anpassen würde. Im Moment wollte sie vor allem sehen, also stellte sie sich vor, sie neige den Kopf zur Seite, drehe ihn, streife mit der Schläfe an der Schulter, mache eine ruckartige Bewegung …
Erfolg! Das VR-Visier neigte sich, sodass sie teilweise einen niedrigen, runden Gang überblickte, mit mehreren Konsolen und einer Liege davor. Wie aufs Stichwort begann in der unteren rechten Ecke ihres Gesichtsfelds ein kreisförmiges Symbol zu blinken, und sie hörte ein akustisches Signal. Als sie das Symbol etwa drei Sekunden lang fixiert hatte, öffnete sich ein durchscheinendes Optionsmenü. Während sie herumexperimentierte, wurde es auf dem Gang laut. Corazon Talavera schrie irgendwelche bedauernswerte Untergebene an und befahl ihnen, »die Eindringlinge aufzuspüren und zur Strecke zu bringen«. Damit waren offenbar Reski Emantes’ Remotes gemeint.
Alles, was dieses Miststück auf die Palme bringt, ist gut, dachte sie.
Die Bedienung des Options-Menüs erwies sich als einfach. Es dauerte nicht lange, da hatte sie eine Liste wichtiger Verbindungen aufgerufen, die ihr beziehungsweise der Ersatz-AI offenstanden.
Energieverteilung Zustandsanzeige
Kommunikationsnetz
Sicherheitsüberwachung
Biophysische Zustandsüberwachung
Chemo-kortikale Zustandsüberwachung
Zielerfassung und Lenkung
Aktivierung und Start
Die letzten beiden Punkte wiesen Zusatzoptionen auf – Codeline-Interface und Immersionsinterface . Sie wählte beim letzten Eintrag Option 2.
Julia verschwamm kurz die Sicht, und im unteren Bereich ihres Gesichtsfelds blinkte das Wort »Neukalibrierung«, dann tauchten um sie herum die Farben und Formen einer düsteren Landschaft auf. Die Erinnerung an die hektischen Momente wurde wach, als sie ihren Körper aufgegeben hatte, um Talavera zu entkommen, und sie begriff, dass sie sich in Irenyas persönlichem Mikrokosmos befand. Finstere Wolken dräuten am Himmel. Julia stand in einem ausgedörrten Garten neben einem vertrockneten Springbrunnen, ein paar Meter von einer großen, imposanten Villa entfernt. Eine von Wolfsstatuen flankierte Treppe führte zu der mit Eisennägeln beschlagenen und mit Ketten und Vorhängeschlössern gesicherten Eingangstür hoch. Julia betrachtete die schmalen, mit Läden verschlossenen Fenster, die bleichen Flechten an der Mauer, den verdorrten, abgestorbenen Efeu. In der einen Ecke ragte ein schmales, rundes Türmchen auf. Es wirkte deplatziert, denn es passte nicht zu den strengen, kantigen Linien des Gebäudes. Sie ging hinüber, trat durch eine offene Tür und stieg die Wendeltreppe hoch. Es donnerte.
Als sie auf einen auf halber Höhe gelegenen Absatz hinaustrat, regnete es in Strömen – durch ein unverglastes Fenster sah sie, wie sich Wasser im Becken des Springbrunnens sammelte und sich auf dem Boden Pfützen bildeten. Sie stieg weiter in die Höhe, bis über ihr Tragebalken auftauchten. Die Treppe endete an einer Tür, die sich mühe- und geräuschlos öffnen ließ. Der dahinter befindliche Raum war leer, nichts als Bodendielen und kahle Wände und ein offenes Fenster, dessen Läden sich nach außen aufdrücken ließen. Der Regen war stärker geworden. Der Wind war böig. Regentropfen sprenkelten den staubigen Boden rings um die schlanke Gestalt, die im Schneidersitz dasaß. Es war Irenya.
Julia hockte sich neben sie, legte ihr behutsam die Hand auf die Schulter, flüsterte ihren Namen. Nach einer Weile schlug Irenya die Augen auf und seufzte.
»Hab
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