Die Ahnen der Sterne: Roman (German Edition)
an und befahl dem anderen Mann, Theo von der Schubkarre zu heben. Nach einigem Hin und Her saß er auf dem feuchten, klumpigen Boden und lehnte mit dem Rücken an einem Baum. Man nahm ihm die Kapuze ab, und er sah, dass sie sich tief im Wald an der Uferböschung eines Bachs befanden. Die feuchte Dunkelheit wurde gemildert von leuchtenden Wurzeln und Insekten, die auf den Bäumen und Kletterpflanzen saßen, und die münzenförmigen Blätter einer nahen Nachtaugenpflanze verströmten ein bleiches, milchiges Licht. Weit oben im Blätterdach schrie ein Tier, und die Insekten wogten und tanzten, sirrten und summten.
Strogalew stand neben dem namenlosen brummelnden Mann und unterwies ihn im Gebrauch einer Handfeuerwaffe mit langem Lauf. Theo, der sich keine Illusionen über seine Lage machte, beschloss, einen Stresstest zu wagen.
»Wann bekomme ich meine Henkersmahlzeit?«, sagte er. »Barosteak wäre nett, vielleicht mit etwas Black Mountainsider zum Hinunterspülen. Na, was meint ihr?«
Strogalew warf ihm einen finsteren Blick zu und bemühte sich weiter, sich dem anderen Mann verständlich zu machen.
Theo zuckte die Achseln. »Ich mein ja nur. Ein zum Tode Verurteilter hat einen Wunsch frei, so ist das nun mal.«
Keine Antwort.
»Wie wär’s mit einer Pfeife? Habt ihr eine Pfeife und etwas Tabak? Eine Zigarette würde es auch tun.«
Nichts.
»Habt ihr wenigstens Bleistift und Papier? – Ich sagte, habt ihr wenigstens … «
Strogalews Kopf ruckte herum. »Ich habe dich schon verstanden! Nein, es gibt weder Pfeifen noch Zigaretten, noch Bleistift und Papier, also halt die Fresse!«
»Wirklich schade. Ich würde nämlich gern ein Testament aufsetzen …«
»Na schön, jetzt stopf ich dir das Maul!« Strogalew zeigte auf seinen Begleiter, der die Waffe mit beiden Händen hielt. »Mach schon – knall ihn ab!«
Der andere Mann, bekleidet mit Hemd und Hose, kam herbeigestolpert, das bleiche Gesicht erschlafft, Verwirrung im Blick, die Hände mit der Waffe ausgestreckt. Sein Mund arbeitete, er murmelte: »Erschieß ihn, mach ihn kalt, drück ab, tu’s einfach, schieß schon!« Dann wurde er langsamer, senkte die Arme, sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, er schüttelte mit tränenfeuchten Augen den Kopf. Strogalew fluchte, entriss dem Mann die Waffe und zielte damit aus drei Metern Abstand auf Theos Kopf. Theo erwiderte seinen Blick.
Strogalew spuckte aus. »Du kannst einfach das Maul nicht halten. Bist selbst schuld …«
Theo wollte sich gerade zur Seite werfen, als es knallte. Blut spritzte aus Strogalews rechter Schläfe, er wurde herumgeschleudert und landete im Gras. Theo starrte den Leichnam sekundenlang an, dann blickte er zum anderen Ufer, hielt im Unterholz Ausschau nach dem Schützen. Er meinte, im Laub eine geduckte Gestalt zu erkennen, dann hörte er in der Nähe eine Bewegung. Als er sich umdrehte, hockte der andere Mann neben Strogalew und hielt wieder die Waffe in der Hand.
Hinter Theo waren Schritte zu hören, Gras raschelte, eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er wandte den Kopf und erblickte zu seiner Überraschung Solvjeg, seine Schwester. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen, dann zeigte sie hinter sich. Theo blickte sich um. Ein Mann in dunkelgrüner Jagdkleidung näherte sich und zielte mit einem Gewehr auf den Mann, der neben Strogalew auf dem Boden saß. Unentwegt vor sich hinbrummelnd, legte der Mann plötzlich das Gewehr weg. Solvjeg hatte inzwischen Theos Handfesseln durchtrennt und ihm ein kleines Messer gegeben, mit dem er seine Fußfesseln löste. Der Mann mit dem Gewehr kam näher, unverwandt auf Strogalews Begleiter zielend. Er hatte eine schwarze Wollmütze auf und einen Stoppelbart, doch Theo erkannte ihn trotzdem – das war Ian Cameron, sein Neffe und Gregs älterer Bruder.
»Freut mich, dich wiederzusehen, Ian«, sagte er.
»Mich auch, Onkel …«
Der Mann am Boden ergriff plötzlich das Gewehr. Es mit beiden Händen haltend, den Lauf gesenkt, blickte er panisch zwischen Theo und Ian hin und her.
»Leg die Waffe weg«, sagte Ian. »Leg sie auf den Boden und verschwinde.«
»Leicht, ganz leicht, erschieß ihn, drück ab … nicht leicht, nicht gut, nicht recht, drück nicht ab, schieß nicht …« Mit zitternden Händen senkte er das Gewehr auf den Grasboden. »… ist leicht, ist gut, ist recht, drück ab, einfach so, erschieß ihn, töte ihn …« Er krampfte die Hände zusammen und hob das Gewehr wieder an.
»Wenn du’s nicht weglegst«,
Weitere Kostenlose Bücher