Die Ahnen von Avalon
Alyssa nieder.
»Ich bin hier, Neniath. Was wolltet Ihr mir sagen?«
»Ich sage, seid auf der Hut! Die Liebe ist Euer Feind - nur durch Verlust kann diese Liebe erfüllt werden. Ihr habt den Stein erhalten - doch jetzt wird er zur Saat des Lichtes, die noch tiefer eingepflanzt werden muss.«
»Der Omphalos-Stein«, hauchte Chedan, und es hatte den Anschein, als ob ihm gar nicht bewusst wäre, dass er die Worte laut ausgesprochen hatte. Er hatte einmal gesagt, dass er immer noch Albträume hatte, in denen er allein eine ungeheure Last zum Schiff hinunterschleppen musste.
Da doch alles andere verloren gegangen ist, dachte Damisa, warum dann nicht auch der Stein? Er hätte doch leicht ins Meer fallen können!
»Ihr spracht von einem… Feind… in der Verkleidung der Liebe?«, sagte Tiriki verwirrt. »Ich begreife nicht. Was muss ich tun?«
»Ihr werdet es wissen…« Alyssas Stimme wurde schwächer. »Aber seid Ihr bereit, alles aufs Spiel zu setzen, um alles zu gewinnen?« Sie lauschten angestrengt, doch es folgte nur noch ein Röcheln, während die Seherin mühsam um Luft rang.
»Alyssa, wie geht es Euch?«, fragte Chedan, nachdem eine kleine Weile vergangen war.
»Ich bin erschöpft… und Ni-Terat wartet. Ihre dunklen Schleier hüllen mich ein. Bitte… lasst mich gehen…«
Der Magier fuhr mit den Händen über Alyssas Körper durch die Luft, doch sein Lächeln war traurig. Für einen kurzen Augenblick wirbelte scheckiges Licht über dem Körper der Seherin, dann verblasste es.
»Bleibt noch eine kurze Weile, meine Schwester, dann begleiten wir Euch mit unserem Gesang auf Eurer Reise«, sagte der Magier leise.
Tiriki berührte Damisas Arm. »Geh und hol die anderen.«
Als Damisa sich duckte, um durch die niedrige Tür hinauszugehen, hörte sie, wie Chedans Stimme die Abendhymne anstimmte.
» O Schöpfer aller Sterblichkeit,
O Licht in tiefer Dunkelheit,
Wir rufen dich am Abend aller Tage
In dieser Welt der Pein und Plage… «
Viele Stunden lang sangen die Priester und Priesterinnen, wobei sie sich ständig abwechselten, um Alyssas Dahinscheiden zu erleichtern. Chedan und Tiriki blieben bis zum Ende bei der Meisterin der Grauen Magie, in der Hoffnung auf noch einen weiteren klaren Augenblick. Auch bei Sterbenden, die keine Seher waren, geschah es an der Schwelle zum Tod, dass sich ihre Sicht in unbekannte Weiten ausdehnte; doch als Alyssa wieder sprach, glaubte sie anscheinend, auf der Insel Carias zu sein, wo sie geboren worden war, und es wäre grausam gewesen, sie noch einmal zurückzurufen.
Man kam überein, dass Alyssas Leichnam in der folgenden Nacht verbrannt werden sollte, und zwar auf der Kuppe des Heiligen Berges. Bis dahin waren die Arbeiten am Weg unterbrochen. Domara wurde mit den Kindern des Dorfes losgeschickt, um Wildblumen als Schmuck für die Totenbahre zu sammeln. Das lenkte das Kind vom Kummer der Erwachsenen ab, doch Tiriki empfand das Haus ohne sie als schrecklich still. Da sie keine anderen Aufgaben hatte, die sie beschäftigt hätten, beschloss Tiriki, Liala bei ihrem Nachmittagsbesuch in Tarets Hütte zu begleiten; dabei zwang sie sich, langsamer zu gehen, um ihre Schritte denen der anderen Priesterin anzupassen, die seit einiger Zeit ohne Gehstock überhaupt nicht mehr auskam.
»Wir hatten natürlich schon andere Tote zu betrauern«, sagte Liala unterwegs, wobei sie schwer atmete, »aber sie ist die Erste ihrer Art, die von uns gegangen ist.« Tiriki nickte. Sie wusste, was die Frau, die um einiges älter war als sie, damit meinte. Selbst die bedauernswerte Malaera war nur eine einfache Priesterin gewesen, ohne besondere Begabung oder Macht. Alyssa war die erste Seherin, die im neuen Land gestorben war. Würde ihre mit Kummer und Schmerzen beladene Seele Ruhe finden oder weiter umherwandern, gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft?
»Es war dieses letzte Tempelritual, das mit dem Omphalos-Stein.« Tiriki ertappte sich dabei, dass sie unwillkürlich zurück zu der Hütte blickte, wo das Ei der bösen Ahnung jetzt lag. »Etwas in ihrer Seele ist zerbrochen, noch bevor Ahtarrath unterging. Danach… war sie niemals mehr dieselbe.«
»Caratra möge ihr Ruhe gewähren!« Liala vollführte das Zeichen der Göttin, indem sie sich die Hände an Brust und Stirn legte.
»Ja, sie wandelt jetzt mit der Nährerin«, sagte Tiriki, doch ihre Gedanken waren weit weg. Sie war mit der Absicht gekommen, Liala beizustehen, aber jetzt merkte sie, dass sie selbst dringend Tarets Trost
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