Die Ahnen von Avalon
weiß ich, vielen Dank!« Cleta war rot geworden. »Die Theologie ist es, die mir Mühe bereitet!«
»Gewiss doch«, sagte Timul begütigend, obwohl auch sie sich ein Lächeln verkneifen musste. »Nun trinkt euren Tee, und ich werde versuchen, sie euch zu erklären, aber wundert euch nicht, wenn ich die Geschichte etwas anders erzähle, als ihr sie bisher gehört habt. Eine Reise führt uns oft nicht nur in fremde Länder, sondern lehrt uns auch, die Dinge von einer neuen Warte zu betrachten. Einst nannte man die Königin der Erde auch den Phoenix, denn wenn die Zeit sich wendet, siecht sie dahin und erneuert sich.«
»Wie die Statue mit dem Doppelgesicht auf dem großen Platz in Ahtarra?«, fragte Cleta.
»Genau«, nickte Timul.
Elara grinste wieder. »Stellt diese Statue nun Ni-Terat oder Banur dar?« Sie hielt inne. »Hast du die alte Scherzfrage etwa noch nie gehört?«, fuhr sie fort, als Cleta sie verständnislos anstarrte. »Cleta, du bist unmöglich.«
»Aber wie lautet denn die Antwort?«, fragte die Jüngere.
Timul grinste jetzt über das ganze Gesicht. »Die Antwort, mein Kind, lautet ›ja‹. Darin besteht das Mysterium. Alle Götter sind ein Gott, und alle Göttinnen sind eine Göttin, und es gibt Einen, der alles in Gang setzt. Das hat man euch doch hoffentlich auch im Tempel des Lichtes beigebracht…«
»Gewiss!«, sagte Elara. »Aber ich hatte es immer so aufgefasst, dass wir hinter der äußeren Form, hinter dem Bildnis nach dem wahren Gehalt suchen sollen.«
»Das Wesen der Götter entzieht sich unserem Verständnis, außer in jenen Momenten, wenn die Seele Flügel bekommt…«
Timul schaute von einem der Mädchen zum anderen.
Elara senkte den Kopf. Ein Augenblick aus ihrer Kindheit kam ihr in den Sinn. Sie hatte am Meer gestanden und zugesehen, wie die Sonne versunken war, und dabei hatte sie versucht, etwas zu fassen, was ihr ganz nahe erschienen war. Und gerade, als das Schauspiel am prächtigsten gewesen war, hatte sich plötzlich eine Tür geöffnet, und sie hatte sich für einen Moment eins gefühlt mit Himmel und Erde. Auch Cleta nickte. Elara hätte gern gewusst, welcher Erinnerung sie nachhing.
»Dennoch stellen wir Statuen auf…« Cletas Frage holte sie wieder in die Gegenwart zurück.
»Natürlich, denn wir leben in einem sterblichen Körper und sind von greifbaren Dingen umgeben. Und unsere Seele spricht eine Sprache, die keine Worte gebraucht, sondern Zeichen. Mit noch so vielen Worten kann man über die Göttin nicht das sagen, was ein gelungenes Bildnis zum Ausdruck bringt.«
»Aber meine Frage nach Caratra ist damit noch immer nicht beantwortet«, beharrte Cleta.
»Ich bin abgeschweift, nicht wahr?« Timul schüttelte den Kopf. »Verzeiht mir. Die Frauen hier sind wahre Töchter der Göttin, doch mit Ausnahme von Lodreimi haben sie nicht die Ausbildung, die es ihnen erlaubte, theologische Konzepte zu erörtern.«
»Caratra…«, wiederholte Elara und lächelte Cleta verschwörerisch zu.
»Es ist alles eine Frage der Ebenen«, erklärte Timul. »Ganz oben gibt es nichts als das Eine, unsichtbar, ohne Geschlecht, allumfassend, in sich ruhend. Aber wo nur Sein ist, kann keine Bewegung entstehen.«
»Und deshalb sprechen wir von Gott und Göttin«, sagte Cleta. »So viel weiß ich. Das Eine wird Zwei, und die Zwei bewirken gemeinsam die physische Manifestation des Geistes. Das weibliche Prinzip erweckt das männliche, er schwängert sie, und sie gebiert die Welt.«
»In jedem Land finden wir andere Götter. Manche Völker haben nur wenige, andere verehren viele. Im Seereich gab es vier…«, fuhr Timul fort.
»Nar-Inabi, den Herrn des Meeres und der Sterne, den wir anflehten, uns durch Nacht und Finsternis zu geleiten, als Ahtarrath unterging«, flüsterte Elara.
»Und Manoah, den Herrn des Tages, den wir im Tempel des Lichtes preisen«, nickte Cleta.
»Aber auch Banur mit den vier Gesichtern, Bewahrer und Zerstörer in einem, und Ni-Terat, die Erde und die Dunkle Allmutter«, ergänzte Elara.
»In Atlantis sahen wir von der Erde nur die Inseln, und deshalb verhüllte Ni-Terat ihr Antlitz.« Timul streckte die Hand aus und berührte ehrfürchtig den gestampften Lehmboden. »Hier«, sagte sie dann und richtete sich wieder auf, »ist es anders. Zwar befinden wir uns ebenfalls auf einer Insel, aber sie ist so groß, dass man viele Tage weit ins Landesinnere reisen kann, ohne das Meer zu sehen oder zu hören. Und dazu gibt es eine andere Geschichte. Im Tempel der
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