Die Akte Daniel (German Edition)
Erfahrungen waren eindeutig: nie mehr als ein solches Subjekt an einem Ort. Wer nicht freiwillig den Weg zum Ordo gesucht hatte, der durfte nicht mit anderen Begabten zusammen an einem Ort leben, die das Schicksal teilten oder Opfer eben dieser Menschen gewesen zu sein. Jason Ghost war dabei jedoch eindeutig ein Grenzfall.
Fearman sah Sarah an, die gerade in sein Büro getreten war. Sie war Empathin und arbeitete in der Regel für ein anglikanisches Krankenhaus in der Stadt. Es gehörte über Mittelsmänner dem Ordo seit gut dreihundert Jahren. Sarah gehörte zu den Menschen, die sich irgendwann einmal entschieden hatten, zumindest nicht direkt im Ordo zu arbeiten. Gleichzeitig bedeutete die Nähe des Ordo Rückzug in Zeiten der Krise und bei allen Begabten konnte das immer mal wieder der Fall sein. Ihre Wahl auf das Krankenhaus fiel daher gleich, nachdem sie sagte, dass sie Krankenschwester werden wollte. Jetzt, gut zehn Jahre nach dieser Entscheidung hatte sie Fearman wissen lassen, dass sie durchaus bereit war, in einzelnen Fällen auch für den Ordo zu arbeiten. Jason war ihr erster Patient, den sie auf diese Weise vermittelt bekam. Jetzt gerade presste sie jedoch ihre Lippen zu einem schmalen Strich und wirkte ganz und gar nicht zufrieden. Sie hatte die Arme verschränkt und sah Fearman fast anklagend an.
»Wer ist er?«, fragte sie ohne Umschweife.
Fearman lächelte. »Ein Kind der Firma. Ein Dämon .«
Sarah krauste die Stirn und schüttelte den Kopf. In einer zeitschaffenden Geste steckte sie eine Strähne ihres aschblonden Haares in ihre Steckfrisur zurück.
»Er ist stabil«, sagte sie dann schließlich, »aber ob ich ihn auf die Beine bekomme, das wage ich zu bezweifeln. Solch ein Krankheitsbild ist mir noch nie untergekommen, außer ich berücksichtige einen Aidskranken im letzten Stadium.«
Fearmans Lächeln verblasste. Er nickte. »Ja, ich weiß. Er ist ausgezehrt und hat in den letzten vierundzwanzig Stunden nur noch von seinen Reserven gelebt. Seit mindestens einem Jahr müssen die Medikamente und die Nahrung, die er bekommen hat, nicht mehr ausgereicht haben. Wahrscheinlich hat er nur noch Hunger gehabt. Die Schmerzen in seinen Gelenken, Leberzirrhose und ein heftiges Magengeschwür haben ihn buchstäblich nach und nach zerfressen.«
Sarah setzte sich ungefragt zu ihm. »Was muss ich bei ihm beachten?«, kam sie auf das Wesentliche.
»Er ist sehr schnell, wenn er keine Medikamente bekommt, die ihn dämpfen. Er muss sie bekommen, weil jeglicher Fluchtversuch ihn umbringen würde.«
»Dann weiß ich Bescheid und gebe das auch an meinen Kollegen Thomas weiter. Würden Sie bitte noch im Krankenhaus Bescheid geben? Ich habe zwar schon etwas gesagt, aber sicher ist sicher.«
Fearman nickte.
Jason verbrachte nach seiner Zählung fast zwanzig Tage im Inkubator, ehe er herausgehoben wurde. Er fühlte sich merkwürdig schlapp und kraftlos, was wohl an den Medikamenten lag, die er ununterbrochen über die Nahrung und über den Tropf erhielt. Aber wohl auch, weil er sich kaum aus eigenem Antrieb hatte bewegen dürfen. Sein Pfleger hatte sich als Thomas Miller vorgestellt, Sarah hieß mit vollen Namen Sarah Glenhagen. Es waren nur diese zwei Menschen, die sich rund um die Uhr um ihn kümmerten.
Er erfuhr auch, dass das Haus kein Krankenhaus war, die medizinische Ausstattung dieses Hauses aber jedes Krankenhaus der Stadt in den Schatten stellen konnte und sie die einzigen Bewohner waren.
Sarah war es, die ihm erklärte, was man mit ihm machte. Sein ganzer Stoffwechsel war extrem verlangsamt worden. Das war mit einer gewissen Gefahr verbunden, aber nur so konnte sich sein Körper insgesamt wieder erholen. Jetzt wurde er langsam wieder in Gang gebracht, um ihn dann auf einen Level einzustellen, der ihn normal leben lassen würde. Sarah schärfte ihm dabei ein, dass er sein Talent nicht mehr nutzen dürfte, wollte er gesund werden. Die Medikamenten verhinderten schon viel. Doch wenn er dagegen ankämpfte, konnte er sterben.
Jason nahm sich die Warnung zu Herzen und hielt sich an den strengen Plan seiner Rekonvaleszenz. Tatsächlich kam er nach dem Inkubator für eine Stunde in den Tank, wurde dem wieder enthoben und in ein normales Bett gelegt. Dafür wechselte man sogar das Zimmer, sodass er die Aussicht aus einem bodentiefen Fenster genießen konnte. Thomas stellte sich auch als sein Therapeut heraus. Er begann seine Muskeln zu aktivieren und ihn langsam wieder an eine aufrechte Haltung zu
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