Die Akte Daniel (German Edition)
gewöhnen, die sein Gleichgewichtssinn im Moment jedoch gar nicht verarbeiten konnte.
Auch seine Ernährung wurde fester und erfolgte nicht mehr durch die Kanüle, sondern in Form von Suppe und Brei. Jason versuchte dabei selbst den Löffel zu führen, aber den Erfolg seiner Bemühungen konnte er erst drei Tage später für sich verbuchen.
»Sie sollten nicht soviel Ehrgeiz entwickeln«, warnte ihn Sarah. »Sie haben Zeit und Sie müssen lernen, was Zeit eigentlich bedeutet.«
»Ich habe die ganze Zeit herumgelegen, ich will mich gern wieder etwas schneller bewegen«, klagte Jason seine Not. Er musste zugeben, dass ihn langsam Ungeduld erfasste. Er war noch nie wirklich in seinem Leben so lange an einem Ort gewesen und hatte sich ausgeruht.
Das hier war anstrengender als jeder Sprint.
»Ich weiß«, meinte Schwester Sarah und reichte ihm ein neues Hemd, das er sich noch mit recht unkoordinierten Bewegungen selbst anziehen durfte. »Doch Sie wissen auch, dass mit dieser Zeit hier in diesem Haus für Sie ein neues Leben beginnen wird. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal gewesen ist. Wenn Sie sich daran halten, dann wird es Ihnen besser gehen und es auch so bleiben. Lernen Sie, ein Buch zu lesen, Musik zu hören, langsam einen Weg entlang zu laufen, ohne ein Ziel dabei zu haben. Wenn Sie das gelernt haben, können Sie vielleicht eines Tages auch mal wieder ein Ziel haben und sich selbst eines stellen. Im Moment ist das Ziel, Ziellosigkeit zu begreifen und die Schwere der Zeit zu fühlen. Langsam tickende Sekundenzeiger und kein Ort, dem zu entrinnen.«
Jasons Blick wurde niedergeschlagen. »Ist das mein Gefängnis?«, fragte er.
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, das ist Ihre Zuflucht. Wenn es Ihnen besser geht, werden wir noch einen geeigneten Platz für Sie finden, an dem Sie sich wohlfühlen. Bis dahin erholen Sie sich.« Sie lächelte freundlich.
Jason fragte sich, wann Doktor Fearman ihn wieder aufsuchen würde. Er hatte das Gefühl, dass seine Zeit der Ruhe bald enden würde.
Jason richtete sich mit Sarahs Hilfe und drei Kissen auf. Immer wieder ballte er seine Hände, um seine Kraft zu prüfen. Er hatte immer schon erschreckend dünn ausgesehen, aber jetzt schien es ihm, als ob er noch dünner geworden war. Sarah kämmte seine Haare und gab ihm einen Topf mit Creme.
Zuerst hatte er nicht gewusst, was er damit sollte, aber inzwischen hatte er zu schätzen gelernt, wie sich seine trockene, gespannte Haut mit etwas Creme zu erholen schien. Glücklicherweise gab es hier nirgendwo einen Spiegel, der ihm sein Elend in Farbe vor Auge führte.
Sarah lächelte ihn an. »Wollen Sie einen heißen Kakao probieren?«, fragte sie. »Wir können versuchen, langsam auf gehaltvollere Nahrung umzusteigen, wenn Sie es sich zutrauen.«
»Kakao? Warum nicht.« Berenice liebte Kakao; ab und an hatte er es geschafft, ihr welchen mitzubringen, aber wie das heiße Gebräu schmeckte, wusste er selber nicht.
Sarah kam nach einiger Zeit wieder und brachte auf einem Tablett zwei große Tassen mit, dazu ein Schälchen mit Sahne und Plätzchen. Sie schob Jason ein Tischchen über die Beine und stellte ihre süße Last darauf ab. »Ich habe Zeit«, erklärte sie. »Wir können gemeinsam trinken.«
Jason nickte; die Gesellschaft, die nicht aus Pflege bestand, schätzte er besonders. »Danke.« Er nahm die Tasse und probierte vorsichtig einen Schluck. »Das ist wirklich gut«, stellte er gelinde überrascht fest. Nun wusste er, warum Berenice so darauf versessen gewesen war. Und wo er schon beim Thema war ...
»Wann kann ich Berenice sehen?«, wollte Jason plötzlich wissen.
Sarah sah sie erstaunt an. »Ich muss zugeben, dass mir der Name Berenice nichts sagt«, erklärte sie. »Ich bin selbst ein Kind des Ordo gewesen. Aber mit dem Internat habe ich mich schon lange nicht mehr beschäftigt. Ich will, soweit es möglich ist, ein normales Leben führen.«
»Berenice Stockwell, ein Nachtling. Können Sie Doktor Fearman danach fragen?«, wurde Jason genauer.
»Natürlich, das werde ich machen.« Sarah drückte ihm ermutigend die Schulter.
»Danke.« Jason war noch immer schleierhaft, wieso man hier so freundlich zu ihm war. Er hatte dem Ordo eine Menge Kummer bereitet, und trotzdem kümmerte man sich hier um ihn. Es war etwas bizarr, aber nicht unangenehm.
Aber vielleicht lag es auch daran, dass keiner hier so genau wusste, was er getan hatte. Das Schweigen konnte ihn also auch schützen.
Jason trank langsam seinen Kakao
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