Die Akte Daniel (German Edition)
was sie wusste und worüber sie halbwegs frei sprechen konnte, auch wenn sie dabei immer wieder ins Stocken geriet. Viele Dinge, so wusste sie in diesem Augenblick jedoch, würden für immer ungesagt bleiben, weil sie nicht darüber reden konnte und wollte. Aber zumindest hatte Berenice kaum noch Alpträume von der Zeit, ganz im Gegensatz zu ihrer Zimmergenossin Ellie. Die beiden waren inzwischen gute Freundinnen, aber Berenice war deutlich geworden, welches Glück sie gehabt hatte, nicht ebenfalls so geistig derangiert aus den Klauen der Firma entkommen zu sein.
Fearman hörte ihr geduldig zu. Er kannte diese Erzählungen von anderen Nachtlingen. Telepathen waren meist zu keiner Kommunikation mehr fähig, wenn man sie erst zu spät hatte befreien können. Die, die noch bei Verstand waren, konnte man meist nicht befreien, denn sie standen unter ständiger Beobachtung. Angst war ihr täglicher Begleiter. Telepathen konnte die Firma nämlich sehr gut nutzen und verwerten. Bei den Nachtlingen hatte sie ein eher zwiespältiges Verhältnis. Sie waren nicht wirklich kontrollierbar. Das machte der Firma mehr Sorgen, als sie sich wohl selbst eingestand.
»Meinst du, dass es gut ist, was die Firma mit dir gemacht hat?«, fragte er Berenice.
»Gut? Natürlich nicht! Es ist schrecklich, was sie mit mir und all den anderen getan haben und immer noch tun! Wie könnte das jemand gut finden?«, entrüstete sie sich überrascht.
»Dann ist es auch nicht in Ordnung, was Jason Ghost gemacht hat und er muss bestraft werden«, schloss Fearman unbarmherzig.
»Das habe ich auch nicht gesagt! Ich sage nur, dass er kein schlechter Mensch ist. Was er getan hat, war falsch, und es gibt keine Entschuldigung ... Aber«, sie zögerte, »wenn man einen Menschen sehr gern hat, kann man ihm auch verzeihen, selbst wenn er Böses tut, denken Sie nicht auch?«
»Aber ich kann ihm nicht verzeihen, Berenice. Er ist ein Verbrecher. Er hat Kinder entführt, damit sie gequält werden. Er hat nichts getan, um das zu verhindern. Glaubst du, dass eine einzige gute Tat seine zahllosen Verbrechen aufwiegt? Unsere Tracker und ich haben diese Kinder gesucht. Es sind erschreckend wenige, die wir gefunden haben und retten konnten. Viele von ihnen, so glaube ich, sind schon lange nicht mehr am Leben. Daran trägt er auch Schuld.«
»Von Ihnen verlange ich doch gar nicht, dass Sie ihm verzeihen! Aber würden Sie aufhören, einen Menschen zu mögen, nur weil er etwas Schlechtes tut? Wenn man ihn wirklich mag, tut man das nicht. Und ich ...« Sie brach ab, weil zu viel Widersprüchliches in ihr aufstieg. So einfach war es nicht, das wusste sie selbst. Aber sie wünschte sich, dass es so einfach war. Sie wünschte es sich innig.
»Du tust das auch nicht«, schloss Fearman. »Komm mit, sieh dir Jason Ghost an. Suchen wir den Menschen, den die Firma sich damals einverleibte, um aus ihm einen Geist zu machen.« Er lächelte minimal.
Berenice nickte entschlossen und folgte Fearman den Flur entlang in eines der hinteren Zimmer. Jason saß im Bett und las; er sah überrascht auf, als er Berenice erkannte. Das Mädchen war ebenfalls gelinde erschrocken. Jason sah so dünn und blass aus, das man ihn tatsächlich für einen Geist hätte halten können. Einzig seine Augen strahlten lebendig; lebendiger, als Berenice sie in Erinnerung hatte. »Jason ... hallo.« Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
»Hallo Berenice«, hauchte Jason im Gegenzug.
Fearman ging zum Fenster und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Er sah interessiert von einem zum anderen, jederzeit bereit, allzu schnelle Bewegungen von Jason im Keim zu ersticken.
»Ich habe mein Wort gehalten«, meinte er zu Berenice. »Jason Ghost ist lebendig, er wird genesen und wieder gesund werden. Doch im Gegenzug möchte ich etwas haben.«
Die beiden sahen ihn fragend an. »Was kann ich für Sie tun?«, wollte Jason wissen.
»Verraten Sie die Firma«, kam Fearman unumwunden auf den Punkt. »Ihre Schwachpunkte, die Labore, die Anlagen, die sie hat. Ich habe im Übrigen Ihren Tod inszeniert. Niemand in der Firma wird Ihren Verrat vermuten. Man wird es wissen, wenn wir das Wissen anwenden. Es mag von mir jetzt taktisch unklug sein, Ihnen zu sagen, was ich vorhabe, aber Sie können es sich selbst denken. Ich kann nicht akzeptieren, dass sie weiter tut, was sie tut. Mit dem Überfall auf das Institut hat die Firma eine Grenze überschritten, die sie niemals hätte übertreten dürfen. Und so etwas darf nicht
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