Die Akte Daniel (German Edition)
Augen schimmerten durchsichtig, fast rot, und zusammen mit seinem weißen, geisterhaften Aussehen wirkte der Albino gefährlich.
»Sie sind unpünktlich, Jason«, tadelte er statt einer Begrüßung.
Jason neigte kurz sein Haupt. »Ich bitte um Nachsicht. Die Aufräumarbeiten haben viel Zeit in Anspruch genommen.«
›Und tun es noch!‹ Das Letzte dachte sich Jason jedoch nur. Es war klar, dass sie noch eine ganze Woche Tag und Nacht würden arbeiten müssen, um alles unter den Teppich gekehrt zu haben, was sich darunter verbergen ließ.
Sein Gegenüber stand auf. Er war größer als Jason, was die unterschwellige Bedrohlichkeit gleich noch einmal verstärkte. »Ich weiß. Aber das alles wäre nicht nötig gewesen, wenn Sie bessere Vorkehrungen getroffen hätten, nicht wahr? Wenn ich das richtig verstanden habe, sind die Tracker des Ordo mühelos bei uns hereinspaziert und haben den Jungen mitgenommen! Sie werden nachlässig, Jason.« Der letzte Satz war in süßen, vergifteten Honig getaucht und verursachte Jason Übelkeit. Sein Leben hing nur noch an einem seidenen Faden. Er wusste, dass sein Status ein besonderer war. Im Zweifel jedoch war er genau so ersetzbar wie jeder andere hier auch. »Ja, wir haben die Aktivitäten der Gegenseite erst im Nachhinein feststellen können. Der Kreis unserer Telepathen ist immer noch zu schwach besetzt und sie scheinen Verstärkung hinzubekommen zu haben. Der Ordo verfügt nach unseren Analysen jetzt über die besten Telepathen auf der ganzen Erde und sie haben auch mindestens zwei Träumer, die sie unterstützen. Der Junge hätte uns endlich den Sprung ermöglichen können, den wir erhofft hatten. Aber sie hatten ihn offenbar auch schon im Visier gehabt. Der Fehler lag darin, dass wir ihn nicht schnell genug außer Landes bringen konnten.« Und das war sein Part gewesen. Jason hatte Deutschland und dann Italien im Sinn gehabt. Dort war der Ordo nicht mit so vielen starken Telepathen vertreten. Hier in Großbritannien war es jetzt wohl für eine lange Zeit fast unmöglich, etwas – oder jemanden – ohne das Wissen des Ordo zu entführen. Das wusste auch Demetrius Archer, leitender Direktor der Foundation in London. Wenn nicht er, wer sonst wusste alles, was in Großbritannien geschah? Doch dieses Wissen hielt ihn nicht davon ab, seinen Untergebenen weiterhin missbilligend zu mustern.
»Dann hoffe ich für Sie und für uns alle, dass Sie das nächste Mal schneller handeln. Sie haben recht, der Junge hätte der Schlüssel zu einem Durchbruch sein können. Und jetzt ist er vorerst außer Reichweite. Aber ...«, Demetrius Archer wanderte langsam in seinem Büro auf und ab, ohne von dem Londoner Verkehr vor seinem Fenster Notiz zu nehmen, »Wer sagt uns, dass er beim Ordo bleibt? Wir haben seinen Hintergrund; er ist eigenwillig und kommt aus der Unterschicht. Kein Vertrauen in Autoritätspersonen. Vielleicht kommt er von alleine zu uns. Oder besser: Ich werde ein bisschen nachhelfen.« Er lächelte leicht und wirkte dabei mehr wie eine Kobra, die bereit war, ihre Zähne in einen Feind zu schlagen.
»Seine Eltern werden von uns schon observiert, genauso seine Schule. Daniel McTyer hat jedoch keine Freunde, sodass weitere Observationsmöglichkeiten nicht bestehen«, berichtete Jason die Einzelheiten. »Ich werde Sie über die weiteren Fortschritte informieren. – Was ist übrigens mit dem Mädchen in Wellingborough? Ist sie ein Objekt?«
»Möglicherweise. Ich warte noch auf die letzten Berichte, aber Sie können sich auf den nächsten Einsatz dort vorbereiten. Oh, und Jason?« Demetrius’ beunruhigende Augen hielten Jason fest. »Keine weiteren Enttäuschungen! Sie waren bisher mein fähigster Mitarbeiter und ich will, dass das auch so bleibt.«
Jason hielt für einen Moment instinktiv die Luft an, dann verbeugte sich knapp. »Ich werde Ihnen keine weitere Enttäuschung bereiten, Sir«, versprach er und ging – fast ein wenig erleichtert. Aber er wusste, dass er sich in dieser Hinsicht selbst belog. Die Raubkatze hatte ihre Krallen nach ihm ausgestreckt und wenn er ihr nicht jetzt zum Opfer fiel, so war es doch nur noch eine Frage der Zeit.
Demetrius sah seinem besten Jäger nach, dann setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch und nahm die Akte Daniel McTyer in die Hand. »So leicht entkommst du uns nicht«, murmelte er.
6
O.D. Internat für begabte Kinder und Jugendliche in der Grafschaft Hampshire an der Südküste Englands
»Einfach rein und
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