Die Akte Daniel (German Edition)
wenn ich sage, ich möchte gehen?«
Mrs. Terranto schaute ihn verständnisvoll an. Zu oft hatte sie in ihrem Leben diese Fragen gehört. Dennoch nahm sie sich drei Sekunden Zeit, ehe sie antwortete, um auch ihrem neuen Schützling die Zeit zu geben, ihr zu folgen. »Wenn du gehen willst, so werden wir dich nicht aufhalten. Wir sind der sogenannte Ordo Divinatio . Grob übersetzt der Orden der Hellsichtigen , wenn dir das mehr sagt. Wir sind jedoch keine Nonnen oder Priester und damit keinem Gott verpflichtet, sondern sind eine uralte Organisation, die sich Menschen wie dir verpflichtet fühlen. Wir sind zum Teil selbst Menschen mit besonderen Fähigkeiten und wir helfen jedem, mit seinen Fähigkeiten umzugehen und mit ihnen zu leben. Wir beschützen aber auch diejenigen, die nicht bei uns bleiben wollen und deren Leben in Gefahr ist. Das bedeutet für dich, dass wir dich gehen lassen, wenn du es wünschst. Aber da du von unseren Feinden, den Kage no Kiseki, entdeckt worden bist, wirst du einen Leibwächter brauchen. Wir werden dich beobachten müssen, damit du sicher bist. Wenn du hingegen hier bleibst, kannst du hier zur Schule gehen und wir helfen dir, später den Beruf deiner Wahl zu ergreifen. Oder du kannst dich dazu entscheiden, für unsere Organisation zu arbeiten, wenn du das willst. Vor allem jedoch werden wir dir hier helfen, deine Fähigkeiten zu kontrollieren und zu nutzen. Und bevor du fragst: Unser Angebot hat keinen Haken. Du verpflichtest dich zu nichts. Nur, ich gebe zu, dass es schwer werden wird, dich außerhalb der Schule zu beschützen. Du bist ein sehr starkes Talent und du bist entdeckt worden. Ich mache mir Sorgen.«
Daniel nickte. Das hatte er verstanden und er glaubte Mrs. Terranto. Sie war offen und freundlich zu ihm und er hatte bei seiner Entführung schon einen Eindruck von dem gewonnen, was ihm bevorstand. Hier gab es helle Räume und man betäubte ihn nicht. Der fremde Mann hingegen hatte ihn in ein Gefängnis gesteckt und außer Gefecht gesetzt. Dennoch, es war zu perfekt, als dass es wirklich so gut sein konnte. Es gab immer etwas, was man bezahlen musste. Alles hatte einen Preis und auch die, die das Paradies anpriesen, nannten früher oder später ihren Preis dafür.
»Werde ich dann auch ein Waisenkind werden wie die anderen hier? Werde ich meine Eltern nicht mehr sehen?«, fragte er.
Mrs. Terranto drückte seine Hand. Ihr Blick wurde bekümmert und sagte damit eindeutig mehr als ihre Worte. »Du kannst deine Eltern wiedersehen, wenn du willst, aber erst später. Wir haben immer wieder erlebt, dass es zu sehr unliebsamen Zwischenfällen kam, und nicht selten haben unsere Gegner versucht, über die Eltern der Kinder an diese heranzukommen. Und da sie bereits Interesse an dir gezeigt haben, ist es zu deinem eigenen Schutz, wenn du eine völlig neue Identität bekommst.« Sie sah ihn mitfühlend an. »Wenn du also hier bleibst, bist du für deine Eltern und die Außenwelt verschwunden.«
Daniel verstand das nun mit den Waisen. Und er wusste, welchen Preis er zu zahlen hatte. Er hatte sich so etwas Ähnliches schon gedacht. Er hatte jedoch das Gefühl, wenn er einfach ging, dass er seine Eltern damit verriet. Mochte es sein, dass sie nicht perfekt waren, so waren sie dennoch seine Eltern und er ihr Sohn. Er liebte sie trotz allem.
Das alles hier – das Haus, die Leute, die Möglichkeiten, die sich ihm boten, sie waren perfekt. Es glich alles einem Traum. Ein Märchen, das nur für ihn Gestalt angenommen hatte. Trotzdem oder gerade deshalb konnte Daniel beim besten Willen nicht aus freiem Herzen zusagen. Stumm, mit gesenktem Haupt saß er vor Mrs. Terranto. Sie verstand ihn nur zu gut.
»Du musst dich nicht sofort entscheiden, Daniel«, erklärte sie sanft, »Bleib ein paar Tage hier und finde genauer heraus, was du tun willst. Wäre das ein Vorschlag?«
Daniel war erleichtert, dass er sich wirklich noch nicht jetzt entscheiden musste. »Wenn das möglich ist, würde ich das gern tun.« Ihm lag jedoch noch eine Frage auf dem Herzen: »Kann ich einfach hier so herumlaufen? Die anderen Kinder sind im Unterricht und ich will nicht stören.«
Was er nicht aussprach, war, dass es für ihn als Anwärter vielleicht die eine oder andere Einschränkung gab. Aber Mrs. Terranto zerstreute seine Sorgen augenblicklich. »Du kannst dich unbesorgt hier bewegen. Die Bereiche, die beschränkten Zutritt haben, wirst du gar nicht erst betreten können. Außerdem ist um spätestens 17 Uhr
Weitere Kostenlose Bücher